ANGEKLICKT
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Man sollte meinen, dass es in der Praxis der Versicherungswirtschaft
nur so von neuen Geschäftsideen wimmelt. Mobile Computing und
Data-Warehousing sind schließlich in dieser "geldigen" Brache keine
Fremdworte. Dennoch unternimmt es die Universität Leipzig, den
Versicherungsstrategen auf die Sprünge zu helfen. Schließlich steht
der Assekuranz immer mehr und weltweiter Wettbewerb ins Haus. Da gilt
es auch neue Marktnischen, wie sie das Internet erschlossen hat, zu
bedienen.
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Doch viele Experten fragen sich, ob beratungsintensive Produkte wie
Lebens- und Rentenversicherungen überhaupt fürs Internet geeignet sind.
Anders als bei weit gehend standardisierten Produkten wie Haftpflicht-
oder Hausratversicherungen wollen Interessenten nämlich beispielsweise
erfahren, ob kalkulierte Ablaufleistungen garantiert sind oder vom
Anbieter gekürzt werden dürfen; Beratungsbedarf besteht auch bei der
Frage, wie sich Sparanteil, Hinterbliebenenversorgung und
Kapitalauszahlung bei einer Lebensversicherung gestalten etc. Es gibt
vielerlei Anlässe, um mit der Versicherung klärende Gespräche zu
führen.
"Ohne Vertreterbesuch geht nichts", sagt Gottfried Koch. Der Professor
für Versicherungsinformatik an der Universität Leipzig
(http://fvi2.informatik.uni-leipzig.de)
hat im Rahmen eines Forschungsprojektes intensiv unter die Lupe
genommen, was sich im Internet alles tut. "Viele Chancen bleiben
ungenutzt", kritisert er. Weder gebe es Produktkataloge mit
transparenten Vergleichskriterien, vom Preis vielleicht einmal
abgesehen, noch solche Sites, wo virtuelle Berater den Kunden beim
Produktvergleich unterstützen. Chancen zum Angebot von Koppelprodukten,
etwa einer Transportversicherung für den Internet-Versandhandel, würden
ebenso vernachlässigt wie die Nutzung des Web als
Marktforschungsinstrument, um zum Beispiel potenzielle Kunden zu
befragen oder deren Verhalten zu beobachten.
Also im Web nichts los? Weit gefehlt, meinen die Wissenschaftler, die
sich mit Branchenexperten der Albingia, Generali Österreich, R + V
sowie CSC Ploenzke auf die Suche nach zukunftsträchtigen Lösungen
begaben. Sie sind davon überzeugt, dass die elektronischen Märkte nicht
mit traditionellen Produkten bedient werden können.
Von Versichungsunternehmen gefordert sind vielmehr gänzlich neue
Business-Modelle. Der Satz von Microsoft-Chef Bill Gates "We need
banking but we don't need banks" lässt sich ohne Zweifel auch auf die
Versicherungswirtschaft übertragen: Wir brauchen Sicherheit, aber wir
brauchen keine Versicherungen.
Die Versicherungsunternehmen bis dato allgemein zugeschriebene
Kernkompetenz wird zunehmend von branchenfremden Dienstleistungen
erfüllt, weiß man nicht nur in Leipzig. Auch die Übernahme von Risiken,
das eigentliche Kerngeschäft der Branche, sei nicht mehr fest in der
Hand der Versicherer. Risiken werden beispielsweise auf die
Kapitalmärkte übertragen.
Welche Rolle bleibt der Versicherungswirtschaft also in der Zukunft?
Kochs Antwort darauf: Die neue Aufgabe der Versicherungswirtschaft ist
nicht "Versichern" im traditionellen Sinn, sondern "Sichern" im Sinne
einer Absicherung der Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse.
In welche Richtung sich die Branche bewegen könnte, lässt sich in
einigen Szenarien darstellen. Zunächst könnte alles beim Alten bleiben:
Produkte gehen wie bisher über den "Ladentisch" des Außendiensts, und
nur wenige Kunden lassen sich auf Online-Abenteuer ein. Ein anderes
Szenario geht vom völligen Verschwinden der Versicherungen aus. In
einer weit entwickelten Wohlstandsgesellschaft organisieren sich
demnach Risikogemeinschaften selbst: Man kauft sich beispielsweise kein
Auto mehr, sondern nur noch Mobilität. Unter dem Dach eine Community of
Interest ist jegliche Information sofort verfügbar, ebenso kann man
sofort alles organisieren und beschaffen.
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DIE ZEIT IST REIF
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Das Web wird sich zu einem zentralen Vertriebskanal entwickeln, davon
ist die Schweizer Rückversicherung überzeugt. Bis 2005 sollen
Online-Anbieter in Europa einen Marktanteil von drei bis fünf Prozent,
in den USA sogar bis zu zehn Prozent für sich verbuchen. In den neuen
Technologien und Medien steckt ein riesiges Einsparungspotenzial. In
den USA kostet eine einfache Vertragsauskunft über eine Agentur rund 19
Dollar, über ein Call-Center hingegen nur acht Dollar und im Internet
gerade mal 45 Cent. Doch im Web können die Konzerne nicht nur sparen,
hier locken auch neue Geschäftschancen, und endlich soll auch der Kunde
zu seinem Recht kommen. Allerdings scheinen Versicherer im Internet auf
die falsche Karte zu setzen, wie die Stiftung Warentest herausfand. Die
meisten stellen schlicht ihre Werbebroschüren ins Netz.
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Differenzierter und wahrscheinlicher ist das dritte Szenarion: die
Versicherung wird Komponentenlieferant. Beim Kauf von Turnschuhen ist
man automatisch gegen jegliche Sportverletzung versichert. Mietet man
sich ein Büro, wird die passende Betriebsunfallversicherung gleich mit
abgebucht. Gute Voraussetzungen also für virtuelle Versicherer, meinen
die Leipziger Forscher. Sie könnten sich auf die Kalkulation von
Risiken sowie die Leistungen im Schadensfall konzentrieren. Ob sich ein
Versicherungskonzern tatsächlich damit anfreunden wird, bleibt freilich
offen, zumal das gewohnte Branding hinter den Marken anderer Produkte
und Dienstleistungen verschwindet.
Das vierte Szenario geht von einer Angebotsverbreiterung aus. Dem aktuellen
Trend der Mergers & Acquisitions folgend, stellen die Unternehmen mit dem
Erwerb von Autoherstellern, Baufirmen oder Krankenhäusern - siehe Managed
Care in den USA - die Versicherungsleistungen selbst zur Verfügung: So
wird man in Deutschland mit dem Abschluss einer Pflegeversicherung
womöglich bald auch einen Pflegeplatz erwerben. Szenario Nummer fünf folgt
unmittelbar den Gesetzmäßigkeiten der elektronischen Märkte. Demnach
erhalten die Kunden preiswert, schnell und unbürokratisch solche Produkte,
die genau auf sie zugeschnitten sind.
Das elementare Kundenbedürfnis nach Komfort schlägt sich in zwei
Geschäftsideen nieder, die im Rahmen des Leipziger Forschungsprojekts das
Licht der Welt erblickten: "Schadonics" und "Jo Immerhilf". Beide Ansätze
demonstrieren auch deutlich, welches Potenzial das Internet für innovative
Versicherungskonzepte bereithält. Schadonics verspricht seinen Kunden: Ihr
Lebensstil ist unser Anliegen. Das Konzept: Wer am Wochenende keinen
Handwerker für den Wasserrohrbruch oder kaputt gegangene Fenster bekommt,
veröffentlicht seinen Schaden einfach im Internet und lässt ihn
versteigern. Den Zuschlag erhält, wer das beste Angebot unterbreitet. -
Nach der Reparatur bewertet der Kunde die Handwerkerleistung und gibt sie
in ein sattelfestes Qualitätskontrollsystem ein. Will er hingegen selbst
Hand anlegen, kann er sich im Internet Reparaturanweisungen besorgen oder
benötigte Materialien perAuktion beschaffen. Prämien richten sich nach der
Bequemlichkeit: Wer alles allein bewältigt, zahlt wenig, Handwerker mit
zwei linken Händen rücken dagegen in eine höhere Versicherungsklasse auf -
den Rest erledigt der Schaden-Broker von Schadonics.
Nach Angaben Kochs handelt es sich bei Schadonics um das Business-Modell
der Prozesseffizienz. Der für das E-Business instrumentalisierte
Geschäftsprozess "Schaden" funktioniere vor allem lokal bis regional, auch
die erforderliche Software für die Lieferanten- und Handwerkerbörse müsse
sich rechnen. "Man kauft keine Katze im Sack", bewertet Koch den Nutzen.
Während Kunden ein "finanzierbares Gefühl der Sicherheit und
Professionalität" erhielten, profitierten Handwerker und Lieferanten von
gesicherter Auslastung ohne Kreditorenrisiko, zumal gemeldete Schäden
garantiert von der Versicherung bezahlt würden.
Bequemlichkeit ist auch Ausgangspunkt der zweiten Leipziger Geschäftsidee,
"Joe Immerhilf". Dabei handelt es sich um ein Portal, das Informationen
sowie Kommunikationsforen rund um das Thema Sicherheit im Netz organisiert
und Interessenten das Gefühl gibt, dass im Notfall immer jemand für sie da
ist. Das Konzept ist langfristig angelegt und personalisiert, alles dreht
sich um die individuelle Situation des Kunden. Nur so lässt sich Vertrauen
aufbauen. Joe Immerhilf stehen verlässliche Partner zur Seite, üble
Geschäftemacherei wird von vornherein ausgeschlossen. Wer schließlich
Vertrauen gefasst hat, kann aus seiner Anonymität heraustreten und Mitglied
eines Clubs werden. Wer sich in der Community engagiert und sich als
sicherheitsbewusstes Mitglied verdient macht, was nach Punkten bewertet
wird, steigt in die nächsthöhere Clubklasse auf.
Die Community von Joe Immerhilf
"Kundenorientierung" und "Traffic erzeugen und anderen verkaufen" lauten
die dem Portal von Joe Immerhilf zugrunde liegenden Business-Modelle. Je
mehr Partner und Kunden sich einbringen, umso mehr Gewinn lässt sich
erzielen. "Auf den ersten Blick hat diese Idee nur wenig mit Versicherung
zu tun", räumt Koch ein. Doch wofür stehen Versicherungen, wenn nicht für
"ein gutes Gefühl geben, sicher zu sein".
Wer zur Community von Joe Immerhilf zählt, gehört auch zu einer Familie,
die sich laut Koch "durch ihre sicherheitsbewusste Geisteshaltung" von
anderen Gruppen unterscheidet. Während heute immer mehr Menschen
vereinsamen und in der von Medien beherrschten Welt kaum noch
zurechtkommen, sorge Joe Immerhilf für Ordnung und Orientierung. Man fühle
sich nicht mehr allein - und man werde nicht sofort gezwungen, seine
Anonymität aufzugeben.
Eine wahre Fundgrube für Versicherungen aller Art, denn in solchen Portalen
und Communities wimmelt es nur so von potenziellen Kunden. Das meint auch
Riccarda Sailer, Geschäftsführerin der Versicherungswissenschaftlichen
Foren GmbH, die Diskussionen, Chats und Hearings zum Thema Chancen des
Internet organisiert.
Als Beispiel nennt sie den Gerling-Konzern, der mit seinen "Trusted Shops"
(www.trusted-shops.de) erste Schritte in diese Richtung eines neuen
Selbstverständnisses der Versicherer geht. Demnach werden Anbieter im
Internet, zum Beispiel der Online-Buchladen Amazon, für ihre Daten- und
Liefersicherheit ausgezeichnet und können mit dem hinzugewonnenen
Gütesiegel klare Vorteile im Wettbewerb verbuchen. Ein weiteres Siegel
erteilt das Europäische Handelsinstitut (www.ehi.org), sofern definierte
Mindeststandards beim Verbraucherschutz eingehalten werden. Die
Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (AgV) bezeichnet beide
Gütesiegel als überzeugende Ansätze.
Noch hält sich der überwiegende Teil der Branche indes mit innovativen
Strategien zurück. "Gut für uns", meint Sabine Musil von der Abteilung
Forschung und Entwicklung der Generali Österreich in Wien, die gerade
dabei ist, einen Business-Plan für eine innovative Internet-Strategie zu
schmieden, und sich damit möglicherweise vom Wettbewerb absetzen kann.
Zusammen mit Koch hat sie ein Buch geschrieben, das der
Versicherungsbranche im Internet neue Wege aufzeigen soll. Musil plädiert
zumBeispiel dafür, den Geschäftsprozess der Antragstellung gleich ganz
abzuschaffen: "Das dient doch nur dazu, ein paar Oberprüfern den Job zu
sichern. Die haben die Versicherungsprodukte so kompliziert gemacht, dass
nur noch sie selbst in der Lage sind, die Annahmekriterien zu verstehen.
Im E-Business gibt es das nicht." Auch die Bedenken hinsichtlich der
Übermittlung persönlicher Daten und Kreditkarteninformationen lässt sie
kaum gelten.
Musil hält das Prämiensystem der Versicherungen im Internet für ebenso
überflüssig wie die überwiegende Zahl der Außendienstmitarbeiter. Nur jedem
Dritten, redet die Expertin Klartext, werde der geforderte Kompetenzsprung
vom Verkäufer zum Berater gelingen. Alles drehe sich um das Bedürfnis der
Kunden nach Komfort und Vertrauen. Versicherer müssen also die neuen
Spielregeln beherrschen und anspruchsvolles Leistungsprofil aus
Datensicherheit (Privacy Policy), Transparenz, Markenbekanntheit,
Einhaltung aller gegebenen Leistungsversprechen, überzeugender Navigation
und Gütesiegeln von "Websicherern" vorweisen können. Verbraucher seien
heute aufgeklärter denn je. Musil: "Wenn ihnen etwas zu lange dauert oder
sonst wie zugemutet wird, sind sie weg."
*Winfried Gertz ist freier Journalist in München
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