Pluralismus und Geschichtsprozeß

Frank Richter, Freiberg, November 2001

1. Geschichtliche Verläufe geschehen nicht nach einem streng determinierten, linearen Fortschrittsprozeß mit jeweils nur einem Ziel, einem möglichen Weg und unter Anwendung einer und nur einer, optimalen Methode. An Bifurkationspunkten tun sich mehrer Wege auf und die Wahl für einen Weg ist zwar nicht völlig zufällig, jedoch vielfach auch zufallsbedingt. Die Entwicklung vor dem Bifurkationspunkt hat bestimmte weitere Entwicklungsmöglichkeiten nach dem Bifurkationspunkt eröffnet und gleichzeitig bestimmte Linien abgeschnitten.

2. Sowohl in der biologischen wie sozialen Evolution können Sackgassen auftreten, d.h. im Verlaufe dieses Evolutionsweges eröffnen sich weder neue Bifurkationspunkte noch die Möglichkeit des Fortsetzens dieses Weges. In der biotischen Evolution kommt es zum Aussterben der betroffenen Art, in der Gesellschaft wird es in der Regel zu einer Art von mehr oder weniger feindlichen Übernahme kommen (Kolonisation, Okkupation, Anschluß).

3. Voranstehendes hat Konsequenzen für den Begriff des Gesetzes und des Gesetzmäßigen. Es ist genauer zwischen Gesetz und Prozeß zu unterscheiden.

4. Voranstehendes hat Konsequenzen für das Verständnis von Gesellschafts- bzw. Geschichtswissenschaft. Erstere befaßt sich eher mit der Begründung der Politik für einen bestimmten Bifurkationspunkt; letztere berschreibt und analysiert die entsprechende politische Entscheidung in einem solchen Punkt und bewertet diese Entscheidung durch einen Vergleich mit dem dann tatsächlich eingetretenen Ablauf des gewählten Entwicklungsweges und denkbaren Alternativen. Solche Entscheidungen sind immer solche unter der Bedingung von Unsicherheit. Es ist niemals möglich, die ja erforderliche Jetztzeitentscheidung 100%ig vorzubereiten.

5. Es ist vorstellbar, daß es bei solchen Bewertungen zu unterschiedlichen Positionen kommen kann, wenn der Historiker auch gleichzeitig den vorausgehenden Entscheidungsprozeß mit einschätzt. Hinzukommt, daß Entscheidungen selbst nicht nach dem Raster wahr/falsch bewertet werden können; das gilt nur für die Entscheidungen zugrundeliegenden theoretischen und empirischen Erkenntnisse - letzteres bezogen auf die Einschätzung der konkreten historischen Situation.

6. Fallbeispiele:

7. Prinzipiell sollten dabei folgende Aspekte zu beachten sein:

8. Kann man aus heutige Sicht also noch Entscheidungen verteidigen, deren Resultat nicht das gewünschte Resultat (z. B. Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab) gebracht haben - als historisch gerechtfertigt, als historisch notwendig? Ist es denkbar, daß in einer linken Partei wie der PDS verschiedene Geschichtsbilder nebeneinander existieren, die je für sich eine bestimmte Berechtigung und Plausibilität besitzen? Wenn man das bejaht, so muß man sehen, daß solche unterschiedlichen Bewertungen wiederum mit den aktuellen Vorstellungen darüber, wie es »weitergehen« soll, zusammenhängen, also z. B. damit, ob man das Projekt des realen Sozialismus für gescheitert ansieht oder nicht, welchen Stellenwert man den zivilisatorischen Erfolgen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften beimißt, ob man beim bisherigen Macht- und Eigentumskonzept bleibt oder nicht, usw. Wer einen theoretischen Pluralismus in der PDS akzeptiert, wird also auch einem historischen Pluralismus zustimmen können.

9. Auf einer anderen Betrachtungsebene wird man unterscheiden müssen zwischen der auf den betreffenden Bifurkationspunkt bezogenen Gesellschaftstheorie, den Entscheidungsträgern und schließlich den Akteuren der Geschichte (hier wieder auf verschiedenen Ebenen: vom »Feldherrn« bis zum einfachen »Soldaten«). Hier liegen jeweils unterschiedliche Erkenntnishorizonte und Entscheidungsspielräume vor, und die Bewertung eines historischen Ereignisses wird aus den verschiedenen Perspektiven also auch unterschiedlich ausfallen können oder sogar müssen. Die konträren Debatten um den Vereinigungsprozeß von KPD und SPD zur SED geben hier ein instruktives Beispiel. Die sogenannte Entschuldigung des Parteivorstandes bezieht sich nicht auf die mittleren und unteren Funktionäre bzw. die Genossen, die in voller Überzeugung und mit bestem Wissen und Gewissen die bisherige Spaltung der Arbeiterbewegung beseitigen wollten, sondern auf die von den damaligen Entscheidungsträgern in KPdSU und KPD favorisierten Konzepte und »Durchführungsbestimmungen«.

10. Das hat Konsequenzen für die Abfassung von Parteiprogrammen sich als pluralistisch verstehender Parteien. Während es als prinzipiell unmöglich erscheint, nur eine Position darstellen zu wollen, ist es wohl auch nicht sinnvoll, nur einen Minimalkonsens anzustreben und alle Differenzstandpunkte wegzulassen. Da es uns schon schwerfällt, theoretisch präzise zu bestimmen, in welcher Gesellschaftsordnung wir eigentlich leben und welche wir anstreben, muß sich das Programm primär auf eine politische Darstellung der Mängel (und gegebenenfalls der Vorzüge) der gegenwärtigen Ordnung beziehen, die wir beseitigen oder erhalten bzw. festigen und ausbauen wollen. Bereits hier wird man nicht nur Konsens feststellen können. Bei den einzuschlagenden Wegen in der politischen Arbeit der PDS und dann erst Recht bei der Bestimmung der anzustrebenden Ziele wird die Schnittmenge immer kleiner werden. Dabei müssen die verschiedenen Positionen aufeinander bezogen (oder gar auseinander entwickelt) und schließlich auf die zu verändernden politischen Strukturen projiziert werden. Es muß also das Programm das Spiegelbild eines Konzeptes gleitender Projektierung sein, in dem die voraussichtlichen Einschnitte bzw. Bifurkationspunkte als mögliche neue Entscheidungssituationen vorgedacht werden. Gleichzeitig kann man die Grenzen dieses sich in die Zukunft entwickelnden Entscheidungsbaumes zu bestimmen suchen: Einfache Wiederholung des Projektes des bekannten realen Sozialismus, wertkonservatives Bewahren der gegenwärtigen freiheitlich demokratischen Grundordnung. Diese Möglichkeiten werden damit prinzipiell ausgeschlossen.