Hochschulen im Wandel -

Richtungen, Holzwege, Zukunftschancen

Hansgünter Meyer, Berlin, Dez. 2000

Inhalt

Einleitung: Wachstumsschübe und Stagnation - die universitäre Dauerkrise in Deutschland

1.
Bildungsexpansion - ihre Dimensionen und ihre Wirkungen auf Universitäten und Hochschulen

2.
Bildung mit ihrem Doppeleffekt, soziale Ungleichheit und sozialen Ausgleich zu fördern

(a)
Wissenschaft und Forschung, Bildung, Universitäten und Hochschulen als die soziale conditio sine qua non
(b)
Das soziale Doppelwesen Bildung

2.1
Hauptachsen gesellschaftlicher Ungleichheit - Bildung als Struktureffekt

2.2
Moderne Hochschulreife versus "deutsches" Abitur

(a)
Reform der Schulen gymnasialen Typus
(b)
Universitäre und Fachhochschulbildung

3.
Die neoliberale Unverträglichkeit von Bildung und Wissenschaft

4.
Die neoliberale "stagnative Förderung" der Universitäten und Hochschulen

(a)
Die "nichtintendierten Folgen der Bildungsexpansion" unter funktionalem Aspekt.
(b)
Der (scheinbare) Ausweg aus dem Bildungsparadoxon: Die "stagnative Förderung"

4.1
Stagnations-Folgen für die Forschung - Das Drittmittel-Syndrom

5.
Das Erneuerungs- und Reform-Syndrom. Der Reform-Diskurs: Was soll und was kann reformiert werden?

5.1
Kritik der "betriebswirtschaftlichen" Reformversuche

5.2
"Neue Modelle" - Selbstorganisation in der Wissenschaft als Modell

Literatur

Einleitung: Wachstumsschübe und Stagnation - die universitäre Dauerkrise in Deutschland

Der Diskurs über Bildung im kommenden Jahrhundert und - was hier unser engeres Thema anlangt, über die Universitäten und Hochschulen - ist ein Diskurs über eine Gesellschaftskrise eigener Art. Man soll bei einer solchen Bestimmung nicht erschrecken, Krisenzustände in der Gesellschaft sind das Normale, man muß es nur einsichtig und beiläufig formulieren und keine Apokalypse versprechen. Zudem: Hochschulen und Wissenschaft befinden sich immer in der Krise. Das ist sozusagen ihre Existenzweise seit altersher; wir werden uns nicht darein vertiefen, setzen aber voraus, daß sie schon in ihrer frühesten Zeit, in den Kalifen- und Maurenreichen weder unberührt blieben von den religiösen Streitigkeiten und den Versuchen der Religionshüter, sich in alle weltlichen Angelegenheiten nichtzuständig einzumischen, wie sie mit diesem Dilemma auch später hinreichend beschäftigt waren, als sich Kaiser und Papst um die Zuständigkeit und Privilegierung der Universitäten stritten - päpstlich-klerikale Förderung ja, aber um den Preis, den Theologen zu überlassen, was als Wissenschaft erlaubt ist und was nicht. Dann, als sie verwickelt waren in Reformation und Gegenreformation und die Ansprüche der Jesuiten sie beschwerten; die der nicht weniger lästigen mißtrauischen, bigotten, puritanischen Gottesmänner des Protestantismus nicht zu vergessen. Schließlich, zeitgleich mit all dem in die Defensive gedrängtem Obskurantismus, im für die Wissenschaft so entscheidenden 17. Jahrhundert, ihre kleinliche Ein- und Unterordnung in die provinziellen landesherrlichen Interessen. Man brauchte sie, und sie wurden gnädigst alimentiert, doch blieb ihnen provinzielle Enge, Untertänigkeit, demütigendes Wohlverhalten und Subalternität nicht erspart.

Dann, im 19. Jahrhundert, mit dem Schwung der preußisch-humboldtschen Reformen, kam ihre große Zeit. Wenn es auch an mancher geistiger, bürgerlicher und politischer Freiheit fehlte - Es waren drei zusammenwirkende Faktoren, die den Welterfolg der deutschen Universitäten von 1810 (Gründung der Berliner Universität) bis zur Katastrophe des Ersten Weltkriegs begründeten. Das Prinzip der Freiheit wissenschaftlichen Denkens, ihre Neustrukturierung als Forschungsuniversität, die Ordinarien-Verfassung. Der erste verhinderte, daß fernerhin maßlose klerikale und/oder landesherrliche Bevormundung wissenschaftliches Denken strangulierte, der zweite überwand die Konservierung von irrtümlichem und veraltetem Wissen durch den Fortschritt, den ungehinderte Forschung ermöglicht, der dritte förderte und stabilisierte die führende Rolle wissenschaftlicher Spitzenkräfte in Forschung und Lehre. Zugleich mit diesen Neuerungen brachte der technisch-wirtschaftliche Aufschwung einen großen Bedarf naturwissenschaftlichen Wissens hervor. Die Universitäten mauserten sich aus Stätten der Schriftgelehrsamkeit zu Zentren mathematisch-naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung, und die Naturwissenschaften wurden zum führenden Modell dafür, was genuines wissenschaftliches Denken ist. Sie waren lange Zeit Anhängsel der Philsophie gewesen, nun emanzipierten sie sich von ihr und bildeten eigene, stürmisch prosperierende Fakultäten. In gewissen Grenzen scheint uns die Aussage zulässig, daß die Universitäten in den späten Zweidritteln des 19. Jahrhunderts eine Verfassung gefunden hatten, die der Rolle von Wissenschaft und Forschung in einer technisch und wirtschaftlich prosperierenden Gesellschaft weitgehend entsprach.

Das änderte sich rasch in den ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zeitlich parallel und ursächlich verbunden mit dem Eintreten und Verlauf des Ersten Weltkrieges setzte ihr allmählicher Niedergang ein, der bereits kurz nach 1933 verheerende Formen annahm und 1945 für Wissenschaft und Universitäten zur Katastrophe ausartete. Schon zuvor hatten die Deutschen ihre führenden Positionen Schritt für Schritt an die USA abgegeben. Der Nazismus leitete dann die Erosion ein. Dieter Hoffmann (1987) gibt in seiner Abhandlung über den Eingriff der Naziherrschaft in das Leben der deutschen Universitäten ("Wissenschaft und Faschismus - das Beispiel der Berliner Physik") die Zahlen der britischen "List of displaced Scholars" (London 1936) wieder, die, ohne vollständig sein zu können, 1.628 Namen aus rassistischen oder politischen Gründen vertriebener Wissenschaftler enthält, darunter, wie Hoffmann betont, Persönlichkeiten von Weltruf (ebenda S. 372). Hoffmann bietet folgende Tabelle:

1933 - 1936 vertriebene bzw. emigrierte Wissenschaftler

Wissenschaftler Deutschland davon Berlin
Mathematiker 62 14
Physiker 124 40
Chemiker 174 73
Techniker 53 25
Biologen 75 25
Psychologen 27 9
Mediziner 464 162
Gesellschaftswissenschaftler 649 195
Gesamt 1.628 543

Hoffmann berechnet die insgesamt von den Nazis eliminierten namhaften deutschen Wissenschaftler mit über 2.500, was einem Drittel des deutschen Wissenschaftspotentials entsprach. Obgleich nach 1945 ein rasches Auffüllen des Ersatzbedarfs stattfand, muß doch festgestellt werden, daß sich in qualitativer Hinsicht - d.h. auch in ihrer Weltgeltung - die deutsche Wissenschaft von diesem Aderlaß nicht wieder erholt hat, vgl. auch die von Hoffmann zitierten instruktiven Abhandlungen Laitko 1987.a und Laitko et al. 1987.b.

Hier kann redlicherweise nicht daran vorbeigegangen werden, daß Hoffmanns Bewertung, es handelte sich um einen geschichtlich präzedenzlosen Vorgang, heute nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Wir gehen kurz auf diese Episode deutscher Universitätsgeschichte ein, weil sie auf höchst schädliche Art und Weise den einsetzenden Reform-Diskurs in der Bundesrepublik unterbrochen und durch selbstgefällige, hin und wieder größenwahnsinnige Ambitionen ersetzt hatte. 1991 begann in großem Umfange das, was in der deutschen soziologischen und politischen Literatur apologetisch als Eliten-Zirkulation bezeichnet wird. Man hatte sich in der politischen Klasse darauf verständigt, daß das Hochschulpersonal der DDR so intensiv kommunistisch infiltriert und so weitgehend von wissenschaftlichen Standards entfernt ist, daß es, mit Ausnahmen, für die sog. Erneuerung der ostdeutschen Hochschulen als nicht geeignet betrachtet werden muß. Den Vogel bei der Schmähung der ostdeutschen Wissenschaftler schoß unzweifelhaft der FU-Professor Arnulf Baring (1991) ab, als er in seinem finstere Visionen ausbreitenden Buch "Deutschland, was nun?" schrieb: "Ihre Schulen waren keine Schulen, ihre Universitäten waren keine Universitäten" ... "sie müssen völlig von vorn anfangen" ... Indianer, fügen wir hinzu, die es aus einem anderen, zumindest atavistischen Weltalter in die gepflegte bundesdeutsche Hochzivilisation verschlagen hat, Menschen die "verzwergt" worden sind, deren "Wissen .. auf weite Strecken völlig unbrauchbar (ist)" (ebenda, S. 59).

Was der gesamtdeutschen Substanz der Universitäten und Hochschulen durch dieses Vandalentum verlorenging, ist noch nicht exakt bilanziert worden, bleibt aber eine wissenschaftshistorische Anstößigkeit, die um so nachhaltiger eine Bewertung verlangt, weil es dem Wesen von Wissenschaft widerspricht, wissenschaftsgeschichtliche Sachverhalte zu klittern und ihre Bedeutung von Politik und Ideologie bestimmen zu lassen.

In der außeruniversitären Forschung wurde eine einigermaßen gründliche Evaluierung durch westdeutsche Kommissionen (unter formaler Hinzuziehung einiger Ostdeutscher) vorgenommen, was zwar die Wissenschaftlerpersönlichkeiten etwas geschont, den Institutionen-Crash und die nachfolgenden Massenentlassungen aber nicht verhindert hat. In den Hochschulen agierten - mit den inzwischen vorliegenden Erfahrungen ist es berechtigt zu sagen - dubiose Gremien, ferner Eignungs- und Ehren-Kommissionen, die fragwürdige Entscheidungen über eine Weiterbeschäftigung trafen. Beispielgebend waren die dafür verwendeten Belastungsstufen I - VIII, die von der Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern für Hochschullehrer ausgearbeitet worden waren (Kultusministerium des Landes M.-V. 1992). Von den 746 beurteilten Professoren und Dozenten des Landes wurden 606 als nicht bzw. nicht relevant belastet eingestuft. Höhere Belastungsstufen (VI - VIII) betrafen 11,7%, das waren 87.

Stellen- und Personalabbau an den ostdeutschen Hochschulen

Personalgruppe Bestand 1989 Bestand 1993 Verlust Verlust in Prozent (1)
Professoren und Dozenten (2) 7.325 6.400 925 12,6
Mittelbau 24.400 10.200 14.200 58,2
Nichtwissensch. Personal 34.750 17.050 17.700 50,9
Gesamt 65.700 33.650 32.050 48,8

Quelle: Eigene Berechnungen nach Angaben der KMK (Schramm 1993). Mittelbau und nichtwiss. Personal ohne Hochschulmedizin (3)

(1)
Der Verlust ist nur "tabellenakribisch" ausgewiesen, denn im 1993er Bestand sind diejenigen Personalzuführungen bereits enthalten, die nach der Entlassung von Personal mit DDR-Karrieren aus westdeutschen Ländern rekrutiert wurden. Die Eliminierung von DDR-Professoren betrug in Wirklichkeit über 60%. Das sind etwa 4.500 Personen. Auch im Mittelbau, in dem nur wenig Westdeutsche Platz gefunden hatten, war die Verlustquote größer, als in der Tabelle scheint. Wenn man von 16.000 im Mittelbau Ausgeschiedenen ausgeht, ist man im Bereich einer vorsichtigen, aber realen Schätzung.
(2)
Die Dozenten an DDR-Universitäten und Hochschulen entsprechen etwa bundesdeutschen C3-Professoren
(3)
Zu diesen Verlusten an Hochschulpersonal kam der Abbau erheblicher Teile des wissenschaftlich tätigen hochschulmedizinischen Personals hinzu, das zu DDR-Zeiten 2.700 Personen umfaßte. Die Verluste überschritten hier 60% bei weitem.

Nach 1945 fanden in beiden deutschen Teilstaaten die deutschen Universitäten und Hochschulen nicht mehr zu ihrer hervorragenden Form zurück. Die Krise wurde permanent.

Die DDR zeigte sich in der Lage, trotz einer schier hoffnungslosen Personalsituation (weitgehende Aussonderung von Nazi-Kadern, Zwangsverpflichtungen von Wissenschaftlern in die Sowjetunion, starke Abwanderung über die Westgrenzen- Laitko 2000) einen bedeutenden Personalaufbau an den Universitäten und Hochschulen einzuleiten und bis zum Schluß durchzustehen. Schier über die Kräfte dieses ausgepowerten Gemeinwesens hinausgehend, wurden bedeutende Ressourcen aufgewandt, um zerstörte Hochschulstandorte wieder aufzubauen, neu auszustatten und neue Standorte zu bauen bzw. einzurichten. Was an technischer Modernität fehlte, wurde versucht, durch einen ausreichenden Personalbestand auszugleichen. Man fing bescheiden an. 1989/90 umfaßte das Gesamtpersonal (einschl. techn. und Pflegekräfte) 96.800 Personen, darunter 14.000 Vollzeitkräfte in F&E, das heißt, auch die Forschungspotentiale der Universitäten und Hochschulen waren personalstark entwickelt worden. Das damit erzielte wissenschaftliche Ergebnis erreichte in einer ganzen Reihe von Bereichen eine international beachtete Form, lag jedoch nur vereinzelt, punktuell auf dem Niveau der Weltbeststandards. Die 80er Jahre waren durch Stagnation und einen zunehmenden Verfall der Ausstattungen gekennzeichnet, auch der Ersatzbedarf an Spitzenkräften konnte immer weniger befriedigt werden. Die Hoffnung der Ostdeutschen, nach dem Verschwinden des DDR-Staates auch die die Entwicklung hemmenden Umstände überwinden zu können und bald auf breiter Front Anschluß an das internationale Niveau zu finden, erfüllt sich nicht. Die neuen politischen Kräfte setzten auf Elitenrotation, starkes Schrumpfen der Bestände und Sparkurs. Es soll nicht verkannt werden, daß in Ostdeutschland heute ein leistungsfähiges Hochschulsystem existiert, das die überkommenen DDR-Standards weit überschritten hat, dennoch ist es in der Leistung geschmälert durch die Verflechtung von alten Entwicklungsrückständen mit den Strukturproblemen und Disfunktionen, die das altbundesdeutsche Hochschulwesen kennzeichneten.

Die Ausgangssituation des westdeutschen Hochschulwesens nach 1945 bzw. 1949 war weitaus günstiger als die im Osten. Aus der Westemigration und aus dem Osten strömte erfahrenes Altpersonal ins Land. Mit dem Art. 131 GG sorgte man für die Weiterbeschäftigung von nicht allzu gravierend belasteten Nazi-Kadern. Nicht unbedeutend war der Zustrom junger, hochmotivierter Menschen, die aus den Ostgebieten und aus der Ostzone bzw. DDR hereinströmten. Der Staat und die Länder waren wirtschaftlich potent genug, ein bedeutendes Hochschulneubauprogramm aufzulegen. Man hatte Zugang zu den westlichen Märkten und eine eigene leistungsfähige Industrie, die moderne Apparate und technische Ausrüstungen liefern konnten. Man hatte Verbindung zu den entscheidenden Fronten des wissenschaftlichen Weltfortschritts. Dennoch war man unter seinen Möglichkeiten geblieben. Auch in der BRD löste der weltweite Sputnik-Schock eine hektische Diskussion aus, daß man endlich die Potentiale in Wissenschaft und Forschung verstärken müsse. Jedoch blieb das, was daraufhin folgte, unter dem historisch erforderlichen Maß.

In den 60er Jahren begann dann der internationale Wettlauf um das sog. Wissenschaftswachstum mit seinen sich verkürzenden Verdopplungsraten, die von den führenden Wissenschaftsforschern als die Phase des autokatalytischen Wachstums der Wissenschaft bezeichnet wurde (womit sie beträchtlich irrten). Denn 40 bis 50% der anschwellenden Forschungspotentiale waren der militärischen Forschung zugeordnet. Das Wachsen der zivilen Forschung war eigentlich nur der spin-off-Effekt des Wettrüstens. Der aus England stammende us-amerikanische Wissenschaftstheoretiker Derek de Solla Price, der als der Theoretiker und Erklärer des Wachstums gilt, schreibt: In den einzelnen Wissenschaftsfeldern gehen die Wachstumsraten up and down und Verdopplungsraten können 20 Jahre dauern oder auch 10 und weniger, so that the balances of nations and subjects change, but only gradually within the general rise which is so rapid, and also, incidentally (zufällig), surprisingly regular. In general, new fields and new nations grow most rapidly and old one most slowly. Typically, once a new country sets about the serious business of a general scientific expansion and reaches a take-off point, it acts as if it were expanding into a vacuum, and, the later a country starts, the higher is the ambient world pressure (desto stärker ist der Druck von außen) and the faster it can seem to expand. (Price 1965)

Autokatalytisch oder nicht, es handelte sich 20 Jahre lang um ein exponentielles, ein sich beschleunigendes Wachstum.

Von hier aus, nach Lösungen suchend, entwickelte Price dann das Konzept der zielstrebigen Potentialbildung, um den neuen Wissenschaftsformen gerecht zu werden und vor allem, den nachteiligen Folgen des sog. Matthäus-Effektes entgegenzuwirken, Robert K. Mertons Entdeckung, daß die entwickelteren Potentiale immer schneller wachsen als die weniger entwickelten, so daß sie die Little-Science-Konditionen konventionellen Wissenschaftsbetriebes, bekanntlich die typische Form der Hochschulforschung, benachteiligen und marginalisieren. Was den darauf abgestellten internationalen Wachstumswettlauf anlangte, so schreibt Price: "Each country mußt get as many scientists as it can possible to afford to train and maintain; for other countries are doing that and, since the coinage of science is international the strengh of a nation will be measured by the reserves of ingenious and able man it can muster." ... "One has therefore no significant choice for a science policy except to support all ongoing research front activity to the very maximum of money that can we spent and of the talent that can we squeezed from the population." (Price, ebenda)

Im Verlauf dieser Wachstumsphase der Weltwissenschaft veränderten sich die Kapazitäten und Potentiale auch der bundesdeutschen Universitäten und Hochschulen bedeutend.

Wachstum des bundesdeutschen Personals an Universitäten und Hochschulen - in Tausend (Personalstellen, ohne Drittmittelkräfte, einschließlich Hochschulmedizin)

  Professoren wissenschaftliche Mitarbeiter (1) nichtwissenschaftl. Personal Gesamt
1960 5,2 15,6 65,9 86,6
1970 14,1 43,4 127,0 168,2
1975 24,0 58,3 180,2 267,3
1980 26,0 58,4 197,1 282,7
1985 28,3 60,5 209,9 298,6
1990 (2) 25,8 68,7 233,4 327,9
1995 (2) 22,4 76,8 251,3 349,5

Quelle: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF), Hrsg.: Grund- und Struktur-Daten 1994/95, S. 206f. - Zuzüglich Nebenberufliche, vgl. Vierteljahresmitteilg. des Stat. Bundesamtes Wiesbaden 1992 für 1990. Spalte 7: Personal mit Nebenberuflichen ergibt dort ein Gesamtpersonal = 370.100
(1)
Wissenschaftliches Personal einschließlich künstlerischen Personals und Lehrkräfte für besondere Aufgaben
(2)
Früheres Bundesgebiet

Anmerkung zu den unterschiedlichen Gesamtpersonalstärken unter Berücksichtigung der verschiedenen Angaben zu Nebenberuflichen, zu befrist. Doktoranden, studentischen Hilfskräften und zu Drittmittelkräften:

Für eine große, forschungsstarke niedersächsische Universität (aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Namensnennung) fanden sich für 1992/93 folgende Angaben: Personalstellen des Landes: 2.208 Beschäftigte. Personaldaten des Wissenschaftsrates: 2.972 Beschäftigte. Nach Angaben der Universitätsverwaltung: 5.259 Beschäftigte. Nach einer nicht absolut vollständigen empirischen Erhebung (mindestens): 6.950 Beschäftigte. Der Unterschied der empirischen Ermittlung aller Beschäftigtengruppen zur Personalstellenführung des Landes beträgt 314,7%. Damit kann die in der Tabelle angegebene Gesamtstärke des Personals an deutschen Hochschulen auf mindestens 500.000 hochgerechnet werden. Der Bundesforschungsbericht berechnet das gesamte F&E-Personal der Hochschulen für 1995 mit 460.400 Vollzeitkräften (vgl. S. 101). Das gesamte wissenschaftliche Personal in F&E mit 22.600. Man geht für die ganze zweite Hälfte der 90er Jahre von einem andauernden langsamen Wachstum aus.

Die Expansion der (hier, wie erwähnt, unvollständigen) Personalstärken der Universitäten und Hochschulen betrug im Jahrzehnt 1960 bis 1970: 271% bei den Professoren, 278% bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern, ca. 193% beim nichtwissenschaftlichen Personal.

Im Jahrzehnt 1970 bis 1980 ging das Wachstum zurück (mehr oder weniger der Normalität des logarithmischen Wachstums folgend) auf 184% bei den Professoren, 134,6% bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern, ca. 155% beim nichtwissenschaftlichen Personal.

Im Jahrzehnt 1980 bis 1990 schließlich kam es zu einem Rückgang auf Größenordnungen, die Stagnation bedeuteten. Bei den Professoren findet man ein "Nullwachstum" auf 99,2%;117,6% sind es bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern, ein jährlicher Durchschnitt von 1,7% , also einen Mitarbeiter zusätzlich auf eine Personalfrequenz von ca. 60 Beschäftigten, was natürlich mit "Wachstum" nichts mehr zu tun hat. Beim nichtwissenschaftlichen Personal, eine Beschäftigtengruppe, die durch Technikeinsatz in nicht unbedeutenden Größen kompensiert werden kann, waren es dennoch begrüßenswerte 118,4% "Zuwachs".

Betrachtet man die funktional entscheidende Gruppe, die mit einem Professorenstatus ausgewiesenen Wissenschaftler in 5-Jahresschritten seit 1960, so ergibt sich folgende Wachstums-Reihe: (1960 - 1965) = 171% - (1965-1970) = 158,4% - (1970- 1975) = 170% - (1975-1980) = 184% - (1980-85) = 109% (Stagnation!) - (1985 -1990) = 99,2% (Stagnation) - (1990 - 1995) = 86,8% (Rückgang). Die Zählung bis zum Jahr 2000 ist dann weiter rückläufig. Seit dem Anfang der 80er Jahre wurde, trotz steten Wachstums der Studentenzahlen, die Professoren-Frequenz in 20 Jahren auf weniger als 80% herabgestuft. In Ostdeutschland, dessen Universitäten und Hochschulen für eine moderne Gesellschaft 1990 keineswegs überdimensioniert waren, verringerte sich die Professorenschaft (von 7.325 auf gegenwärtig ca. 4.500) auf etwa 60%. Weitere bedeutende Streichungen von Personalstellen sind angekündigt.

Man muß also konstatieren, daß nach 1977, als die sozialliberale Koalition eine weitgehende Aufhebung des NC durchsetzte, die Studentenzahlen stiegen und weiter zu steigen sich anschickten, während die Kapazität der Hochschullehrerschaft eingefroren wurde.

Der Einstieg in die 80er Jahre markiert international das Ende des Wissenschaftswachstums in der Unschuld eines internationalen autokatalytischen Effektes in exponentiellen Maßstäben, wenn auch angetrieben vom Rüstungswettlauf, und es beginnt der Umschlag von stürmischen Zuwächsen in das nationale Stagnations-Trauma. In Deutschland fiel diese Zäsur zusammen mit der sog. konservativen Wende 1982, die zusätzlich ein retardierendes Moment in die (auslaufenden) Expansionstendenzen des Hochschulwesens hineinbrachte.

Die internationale Dimension des auslaufenden Wachstums soll knapp so bewertet sein: De Solla Price, von Hause aus Physiker, hatte schon in den 60er Jahren das Ende des Wachstums vorhergesehen. Es war klar, Wachstumskurven folgen mehr oder weniger streng ihrer Parabelform. Dann beginnen sie zu "flattern". Aus der Phase "exponentiellen" gehen die Potentiale über in das "logarithmische" Wachstum, deren Endstufe Price auch die "logistische (oder auch qualitative) Wachstumsphase" nennt. Hier muß, wenn man Leistungs-(Output-)Effekte des Systems steigern will, oder Stabilitätskriterien etc. zu sichern sind, umgesteuert werden auf qualitative Veränderungen, also auf eine wirksamere Ausschöpfung der Funktionsmöglichkeiten des Systems. Diese Arbeiten von Price wurden fast 10 Jahre vor der Entdeckung der "Grenzen des Wachstums" durch den Club of Rome bekannt (Price 1965, a.a.O.).

Der Übergang zum Prinzip kleiner Zuwächse, diese aber eingesetzt für qualitative Systemwandlungen, für strukturelle Optimierungen, gelang beiden deutschen Hochschulsystem nicht, freilich aus sehr unterschiedlichen Gründen und mit sehr unterschiedlichen Folgen.

1. Bildungsexpansion - ihre Dimensionen und ihre Wirkungen auf Universitäten und Hochschulen

In der BRD hatte man in den 60er Jahren versäumt, sich rechtzeitig auf eine Öffnung der Universitäten und Hochschulen für eine Bildungsexplosion einzustellen, wie sie international ingang war. Die Expansionstendenzen bei (höherer) Bildung hatten ihre Grundlage in der Wertung, die bestimmte Teile der Bevölkerung der Modernisierung der Arbeitswelt beilegten. So war es s.Zt. durchaus unnötig, die unten ausgewiesenen elitären Begrenzungen, die im Preußen der 90er Jahre galten, durch Verbote und Schließungen der Gymnasien und Hochschulen aufrechtzuerhalten (was die Nazis dann ab 1934 praktizierten). Die Leute kamen einfach nicht massenhaft auf die Idee, ihre Kinder zum Gymnasium zu schicken. Man wußte, was sich ziemte, wenn man zur Elite gehörte und was, wenn man nicht dazugehörte. Anders in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Das Bild einer modernen Arbeitswelt mit seiner starken Hinwendung zu "White-collar-Berufen" und Tätigkeiten im tertiären Sektor prägte immer mehr die Wertemuster und die sozialen Erwartungen der Bevölkerung. Es ist daran zu erinnern, daß am Ende der 50er Jahre - besonders von linken Kräften - eine ausgedehnte publizistische Kampagne zur sog. 2. Industriellen Revolution oder auch "technische Revolution" betrieben worden war, die ihre Wirkungen nicht verfehlte. Von Jahr zu Jahr schwoll die Anzahl der ein Hochschulstudium Erstrebenden an - und in Vorbereitung darauf drängten Eltern und Schüler an die Oberschulen und Gymnasien.

Die praktische Berufsausbildung dagegen blieb hinsichtlich ihrer Frequenzen zwischen 1960 und 1990, bei geringen Schwankungen, erstaunlich stabil.

Bestandene berufliche Abschlußprüfungen in der Bundesrepublik, in Tausend

  Industrie und Handel Handwerk Landwirtschaft alle Berufe
1960 248,5 150,4 13,5 k. A.
1970 246,5 113,3 17,3 1975: 460,7
1990 191,1 158,1 15,1 531,6

Quelle: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF), Hrsg.: Grund- und Struktur-Daten 1994/95, S. 124.

Dagegen veränderte sich das Bild, wie die Tabelle zeigt, an den allgemeinbildenden Schulen beträchtlich. Obgleich viele Komponenten zusammenkamen, darunter auch die wechselnde Geburtenhäufigkeit) und das Bild verzerren, ist die Diagonale in der folgenden Tabelle (erkenntlich an den gepunkteten Kreuzungsfeldern) doch gut ausgeprägt. Die expandierenden Schulabschlüsse verlagern sich von oben links nach unten rechts. (Die Spalte "mit Berufsschulzeugnis" fällt aus anderen Gründen aus dieser Tendenz heraus).

Die 1975er Frequenzen der Abschlüsse stellen, nach internationalem Standard, allerdings noch keine durchgreifende Wandlung in den Ausbildungsstrukturen dar. Dennoch stieg die Hochschulreife in 10 Jahren (1965-1975) auf immerhin 346,5% an. Eine Expansion ist das sicher, aber der Ausdruck Bildungsexplosion, den manche Autoren verwenden, geht ja wohl kraß daneben. Auch ist es keine Revolution. Es ist eine Verschiebung in Richtung Hochschulreife um durchschnittlich jährlich 12.450 Schüler atJ. (atJ. = Frequenz je alterstypischen Jahrgangs) von ca. 1.3 Mio. atJ., also um weniger als 1% jährlich, schulisch gesehen um jährlich einen Schüler je 4 Klassen mit je 25 Schülern.

Schulabgänger an Schulen der Bundesrepublik - in Tausend

Jahr Hauptschule (1) Realschule mit Hochschulreife Studienanfänger (1) mit Berufsschulzeugnis (2)
1960 354,6 117,2 56,7 79,4 k. A.
1965 422,8 131,8 50,5 85,7 k. A.
1970 348,8 200,1 91,5 125,7 523,2
1975 347,1 318,0 175,0 166,6 536,1
1980 391,4 422,2 221,7 195,0 623,7
1985 319,9 419,7 298,9 207,7 705,5
1990 199,9 284,0 274,7 278,2 556,8
1995 (2) 195,5 282,6 249,5 245,1 480,3
1998 (2)     218,7   439,0

Quelle: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMB+F), Hrsg.: Grund- und Struktur-Daten 1994/95, S. 76f. sowie 1999/2000, S. 140
(1)
Studienanfänger, BMB+F 1994/95, S. 136.
(2)
Studienanfänger, BMB+F 1999/2000 (S. 140) Das BMB+F unterscheidet zwei nicht näher bestimmte Kategorien von Schulabgängern mit Hochschulreife und Studienanfänger. In einer anderen Berechnung werden erstere für 1995 mit 294.800 letztere mit 312.900 ausgewiesen.

Die Vollzeitschulpflichtigen ohne Hauptschulabschluß wurden nur bei den Schülern gesamt (Basis für die Errechnung der Quote der Abgänger mit Hochschulreife berücksichtigt)

Die Summe aller Schulabgänger betrug 1960 ca. 1.200.000, 1970 = 1.303.900, 1993/95 = 1.206.300. Dies ist, da keinen anderen Erklärungen geltend gemacht wurden, vermutlich der Verringerung der Frequenz der Geburtenjahrgänge geschuldet. Darauf bezogen, betrug die Quote der Schüler mit Hochschulreife 1960 ca. 4,7 % - 1970 = 7,0 %. - 1993/95 zählte sie 20,4% .

In den beiden Jahren ihrer höchsten Frequenz, 1983 und 1984 (305.700) nahm sie (bei 1.851.300 Schulabgängern insgesamt) den Umfang von 16,5 % an. Es ist bemerkenswert, daß die Quote bedeutenden Schwankungen unterliegt, was durch zwei Komponenten begründet scheint: durch die Frequenz der Geburtenjahrgänge sowie durch konjunkturelle wirtschaftliche Überlegungen der Eltern (Steigen und Fallen der Arbeitslosigkeit z.B.).

Wir halten die hier ausgewiesenen Quoten von Abgängern mit Hochschulreife aus Gründen, die in der Klassifikation der Abschlüsse liegen können, z.B. im Fehlen von Sonderwegen zur Hochschulreife (Hochschulreife, die nicht über das gymnasiale oder Fachberufs-Abitur erworben wurde) für vom Ministerium zu niedrig ausgewiesen. So weist die DUZ die aktuelle Quote der Abiturienten mit 24% atJ. aus (DUZ, redakt. 22/1999).

Auffällig ist, daß 1960 - 1970 die Anzahl der Studienanfänger die der Schulabgänger mit Hochschulreife überschreitet. Das BMBF gab dafür keine Erklärung, man kann vermuten, daß die Ursache darin liegt, daß die Abiturienten nur Deutsche sind, während bei den Studienanfängern ausgewiesen wird, daß sie Deutsche und Ausländer umfassen. In den 90er Jahren übersteigt die Anzahl der Studienanfänger erneut die der Abiturienten bzw. der Studierwilligen, weil Ostdeutsche dazugekommen sind, die ein Studium an einer Einrichtung der westdeutschen Länder bevorzugen.

Die BRD tat sich schwer, dem internationalen Trend zu folgen, der darin bestand, daß die Abitur-analogen Abschlüsse in den entwickelten Ländern, vor allem in den USA und Japan bis zur Marge von 40% eines alterstypischen Jahrganges hinstrebten. Erst Mitte der 70er Jahre gewann die Quote der Abiturienten eine in die richtige Richtung tendierende Frequenz, wenn auch noch ziemlich zurückhaltend. 1970 hätten die Abiturienten der BRD (soweit das BMBW das ausweist) nicht gereicht, die Hoch- und Fachschulzulassungen der DDR abzudecken.

Das Gesagte macht auch ein einfacher Vergleich zwischen BRD und DDR deutlich:

Jährliche Zulassungen zum Studium an Hoch- und Fachschulen der DDR, in 1.000

Jahr Hochschule Fachschule Studenten gesamt
  Direktstudium insgesamt Direktstudium insgesamt Direktstudium insgesamt
1960     19.5 57.8    
1965 16.5 23.3 21.5 43.3 38.0 66.6
1970 31.1 44.7 23.0 56.5 54.1 101.2
1980 25.8 31.3 35.5 52.1 61.3 83.4
1988/89 26.0 32.0 30.2 48.2 56.2 80.2

Quelle Ministerium für Hoch- und Fachschulen der DDR, Hrsg.: "Hochschulen und Fachschulen der DDR" a.a.O.

Die starke Steigerung der Zulassungsquoten, besonders im Zeitraum 1965 - 1970, ist augenfällig. Sie wäre noch deutlicher, würde man die Spitzenwerte der Jahre 1972/74 separat ausweisen. Sie leitete sich ab von einer durch Ulbricht veranlaßten Prognostik, wonach in den späten 80er Jahren mehr als ein Drittel aller Arbeitskräfte wissenschaftliche Hochqualifikationen benötigen würden. Wir können im Rahmen dieser Darstellung auf diese Episode in der DDR-Bildungspolitik nicht weiter eingehen, obgleich sie für die spätere Entwicklung gerade des Hochschulwesens (und darüber hinaus der DDR-Intelligenz) eine Schlüsselrolle spielt. Von Interesse ist dabei auch der außerordentlich hohe Anteil an Abend- und Fernstudenten, insbesondere letztere Kategorie. Er wird bei der Berechnung der Ausbildungsleistung der DDR-Hoch- und Fachschulen nur selten berücksichtigt, was ein schiefes Bild auf den Bildungssektor wirft, da dadurch die Limitierungen für junge Leute, eine Hochqualifikation zu erwerben, überhöht dargestellt werden.

Wir wollen nun mit einer Konkordanz-Rechnung den BRD-DDR-Vergleich über die Gesamtfrequenz der Studierenden im damaligen West- und Ostdeutschland durchführen.

Aus den vorstehenden Tabellen ergibt sich, daß die mit dem Hochschulsystem der westdeutschen Länder am ehesten kompatiblen Ausbildungstypen der DDR von folgenden Ausbildungsinstitutionen geleistet wurden: Universitäten, wissenschaftliche, künstlerische, technische und pädagogische Hochschulen, Ingenieurfachschulen, wirtschaftsnahe Fachschulen (d.h. ohne kulturelle, medizinische und pädagogische Fachrichtungen). Diese Gruppe von Hoch- und Fachschulen bildete 1988-90 nicht unter 258.000 Studenten (zeitgleich Studierende) aus.

Wenn diese Zahl umgerechnet wird auf die westdeutsche Bevölkerung (Relation 3,78 : 1), so hätte das (konkordant) 975.000 Studenten (zeitgleich Studierende) an westdeutschen Hochschulen entsprochen.

Real wurden in diesen Jahren jedoch ca. 1.384-1.417 Mio. Studenten an den westdeutschen Hoch-schulen gezählt, 143% des konkordanten Wertes. Das zeigt den vergleichsweise zurückgebliebenen Stand der Bildungsexplosion in der DDR.

Nun muß man hier eine Präzisierung vornehmen. Das DDR-Ausbildungssystem hatte nach 1972 - nach dem steilen Zuwachs an Zulassungen - seine Kapazitäten eingeschränkt. Wenn wir den seinerzeitigen Gipfelpunkt des Kapazitätenwachstums in gleicher Weise umrechnen (Relation 3,5 : 1), so entsprachen die ca. 300.000 Hoch- und Fachschul-Studenten dieser Jahre (1970-1972) in der DDR einer westdeutschen konkordanten Frequenz von etwas über 1 Million Studenten. Real studierten jedoch nur ca. 500.000 an westdeutschen Hochschulen. Die DDR hatte der zeitgemäßen Bildungsexplosion also früher Raum gegeben als die BRD.

Es hat sich ein merkwürdiger gegenläufiger Trend abgespielt. Die DDR-Bildungsökonomie (wir verzichten hier, um den Rahmen der Erörterung nicht noch mehr auszuweiten, auf Literaturverweise - Autoren waren u.a. Harry Maier, Jürgen Wahse et al., Werner Wolters, Ehepaar Lötsch) hatte schnell erkannt, daß es zunehmend schwieriger werden würde, diese Mengen von Absolventen effektiv einzusetzen. Ihre Argumentation wurde erstaunlich schnell von der Politik aufgegriffen und führte zu einem neuen Konzept in der gesellschaftlichen Wertung der Schicht der Hochqualifizierten.

Der Abbau von Hoch- und Fachschul-Ausbildungskapazitäten in der DDR begann also Jahre bevor das große Wachstum der Studentenzahlen in der BRD begann. Es wurde jedoch nicht wieder aufgenommen, als dann dort die Bildungsexplosion voll einsetzte (besonders nach 1977). Die Hoch- und (wirtschaftsnahen) Fachschulen der DDR hatten ein bedeutendes wissenschaftliches Niveau erreicht, sie hätten auch eine neue Runde der Bildungsexpansion bestehen können, aber ihre Ausbildungskapazitäten waren auf den Bedarf einer RGW-Wirtschaft und -Industrie eingestellt, was über 1980 hinaus aber schon nicht mehr der Rationalisierung der Ausbildung und des Einsatzes von Hochqualifikationen entsprach. Diese Vorgänge wandelte sich vielmehr um zu einem korrelativen Moment der Stagnationserscheinungen.

2. Bildung mit ihrem Doppeleffekt, soziale Ungleichheit und sozialen Ausgleich zu fördern

Wissenschaft und Forschung, Bildung, Universitäten und Hochschulen als die soziale conditio sine qua non

Bei der Thematisierung des Zusammenhanges Gesellschaft - Bildung - Universitäten, Hochschulen und Forschung stellt sich die wissenschaftstheoretische-grundlagenwissenschaftliche Frage, wie weit man in die Schichten des sozialen deterministischen Chaos zurückgehen muß, wie tief man greifen muß in soziale Wirkzusammenhänge, um Anhaltspunkte, um ein besseres Verständnis des Wissenschafts-Gesellschaftszusammenhanges, zu finden, was immer das in seiner ganzen Weite ist. Wovon aber zumindest die Bildungs- und Hochschulzustände ein wesentlicher Tatbestand sind.

Gehen wir das Thema ganz von vorn an, oder von unten, dann ist zunächst Gesellschaft ein assoziierter Zustand von Menschen (den der Amerikanische Evolutionstheoretiker Jared Diamont (1998) "den dritten Schimpansen" nennt oder, der gleichfalls auf diesem Gebiet arbeitende Engländer Jonathan Kingdon (1994) "The selfe-made-man" - Der Mensch schuf sich selbst.) - Menschen also, die korporativ tätig sind, die Produktion und Reproduktion ihres physischen und geistig-mentalen Lebens zu betreiben, wobei sie, zunächst langsam und dann immer schneller, sich und ihre sozialen Beziehungen verändern. Der Mensch, anthropogenetisch und auch für alle absehbare Zukunft der Moderne, ist das Produkt selbstreferentieller, kognitiv vemittelter Beziehungen seines Tuns. Davon ist auszugehen, auch wenn im Zeitalter virtueller Kulturwelten es so scheinen mag, daß man darauf nicht mehr abheben muß, daß es eventuell genügt, bis zur Marktwirtschaft zurückzugehen als dem neoliberalen Urgrund aller nennenswerten Seinszusammenhänge. "Die hegelianische Überheblichkeit", meint Wolf Lepenies auf einem "Zukunfts-Symposium" in Hannover, die in der westlichen Moderne mit dem Markt als Fahnenträger das historische Klassenziel begrüße, müsse durch die "Einsicht in die Pluralität des Modernisierungsprozesses" abgelöst werden (Lepenies 1999, nach Ruth Kuntz-Brunner, DUZ 23/1999, S. 14).

Hier wollen wir uns aber darauf beschränken, daß die geistige, die kognitive Komponente der Tätigkeit des Menschen, die von Anfang an sein Vorteil war in der Evolution, sich arbeitsteilig verselbständigte und zu einem eigenständigen, hochdynamischen Bereich entwickelte, der kreativen wissenschaftlichen Tätigkeit. Man kann die Geschichte des Menschen auch als Geschichte der Diversifizierung und Vervollkommnung der Arbeitsteilung schreiben, wobei ganz offenkundig der Wissenschaftssektor sich mehr und mehr verselbständigte, einen steilen Aufstieg nahm und zur Quelle einer enormen autokatalytischen Beschleunigung der ganzen gesellschaftlichen Entwicklung wurde. Wissenschaft, stellte Marx fest, ist allgemeine Arbeit, die zur Verfügbarkeit durch die Gesellschaft allen konkreten Arbeiten vorgelagert ist (aus denen sie sich in einem langen Prozeß ihrer kognitiven Durchdringung herleitete) (Marx, Das Kapital, Band III 113f).

Das hat immer, weil Bildung aufwendig ist, die Frage aufgeworfen, heute aber in verschärfter Form, wo Geld und andere Ressourcen geheimnisvollerweise knapp sind wie nie zuvor, wieviel Bildung und Wissenschaft brauchen wir denn. Es ist inzwischen jedoch nicht mehr so wichtig, nach dem Wieviel von Wissenschaft zu fragen, das die Gesellschaft braucht - das Vorhandensein wissenschaftlichen Wissens und seiner praxisverwendbaren Derivate ist eine conditio sine qua non der ganzen menschlichen Existenz. Es ist eine Zwangsvoraussetzung wie die, daß ohne freien Sauerstoff die Evolution nicht hätte stattfinden können, und daß, nachdem die Evolution selbst freien Sauerstoff produzierte, es zu einer referentiellen Abhängigkeit kam, bei nachfolgender Eskalation der Evolutionsdynamik, die eine nicht mehr umkehrbare wechselseitige Abhängigkeit bewirkte. Dieser Entwicklungslogik folgend, wäre es für die heutige Hochzivilisation ein akutes Existenzrisiko, auszuprobieren, um wieviel man das wissenschaftliche Potential und damit die Intensität des Wissenschaftsimpacts herunterfahren kann, von dem dieses ganze zivilisatorische Universum generativ abhängt, es kaputterodieren lassen kann, um sodann gewisse andere Systemoutputs maximieren zu können.

Der Gesamteffekt der geistigen Entwicklung (nun vorhanden als Wissenschaft und Bildung) ist die Gewinnung einer größeren korporativen Effektivität in der Umgestaltung und Aneignung der Natur durch menschliche Tätigkeit. Hat das Altertum mehr als ein halbes Jahrtausend gebraucht, einer Hochzivilisation willen die Wälder des Mittelmeergebietes zu eliminieren (für den Häuserbau, für den Schiffsbau, als Brennmaterial), so benötigt der moderne Mensch nur ein paar Jahrzehnte, um den gesamten Regenwald der Erde in devastierte Böden und Asche zu verwandeln. Aber die Menge und Qualität seiner Subsistenzmittel, deren Gebrauch er seinen Wohlstand nennt, sind dabei in ungeahnten Dimensionen angewachsen. Nach dieser langen Geschichte seines schöpferischen "Undoing" (J. Kingdon) hat er voll zu tun, unter Aufbietung seiner ganzen wissenschaftlichen Produktivität sein Verhältnis zur irdischen Natur wieder zu normalisieren und zugleich das Aufkommen an notwendigen Ressourcen zu vermehren. Ob die heutige Zivilisation erhalten bleibt und prosperiert oder sich in immer neuen, sinnlosen Effizienzsteigerungen zugrunde richtet, ist zuallererst eine Frage nach dem Gewinn der wissenschaftlichen Mittel für eine solche Aufgabe.

Das soziale Doppelwesen Bildung

Wissenschaftliches Wissen, Kognition, organisiert in wissenschaftlichen Disziplinen, wird angeeignet durch Bildung. Bildung erhält somit den Status einer wirtschaftlich verwertbaren Ressource, was sich aus der Rolle des bloß einzelnen Wissenschaftlers fortentwickelt hat zur umfassenden technisch-produktiven Verwertung. Mit ihr entstand ein Massenbedarf an Wissenschaft und damit an graduierten Trägern von wissenschaftlichem Wissen. Zugleich wuchs das Erfordernis nach Wissenschaft und entsprechender Bildung über die Verwendung in der Produktion hinaus zu ihrer Verwendung in tertiären Bereichen. Wissenschaftliche Kognition und ihre Vermittlungsform, Bildung hat, was aus vorhergehendem folgt, einen exzessiven Prozeß des Wachstums und der Verbreitung. Zu den Gründen dafür ist zu rechnen, daß die korporative Tätigkeit des Menschen einen wachsenden Bedarf hervorbrachte, und das für ihr Wachstum und ihre Ausbreitung relativ wenig Ressourcen aufgewandt werden müssen. Wissen, Bildung, sind nicht nur eine äußerst nachhaltig wirksame, sondern auch eine sehr preiswerte Ressource.

Mitgewachsen mit dem Bildungsstandard ist dabei auch das, was wir soziale Ungleichheit nennen. Überhaupt läuft alle menschliche Entwicklung auf Ungleichheiten hinaus. Lord Dahrendorf hat 1961, da war er noch kein Lord, in seiner Tübinger Antrittsrede (Dahrendorf, 1961) einen gewaltigen Überbau an Ideologie bemüht, um diesen betrüblichen Tatbestand zu erklären (zu rechtfertigen, zu begrüßen). Das ist heute nicht mehr nötig, wo selbst die linken Meinungsführer, nach den Erfahrungen des letzten Jahrhundertquartals in dieser Frage sehr vorsichtig agieren. Mit Recht, denn es ist gar nicht mehr fraglich ob, sondern nur noch wie sich prozessual die sozialen Unterschiede gestalten. Ob sie zu systemischen Disfunktionen ausufern oder systemverträglich gesteuert werden können.

Der von Matthäus und Lukas übermittelte Satz des kommunistisch-religiösen Denkers Jesus Christus, der sich genau darauf bezieht, "wer da hat, dem wird gegeben werden", (NT: Matt. 25.29-30; Lukas, 19.26) hat sich weit über seinen moralischen Sinngehalt hinaus als Naturgesetz erwiesen, dem übrigens der britisch-amerikanische Wissenschaftstheoretiker Derek de Solla Price vor nunmehr schon 35 Jahren den Namen "cumulative advantage", deutsch, etwa: "Kumulation systemischer Vorteile" verlieh (Derek de Solla Price, 1965).

Allerdings ist es so, daß die Vorteile auf dem einen Pol sich ebenso kumulieren wie die Nachteile auf dem Gegenpol, es ist also durchaus so, wie im Neuen Testament verheißen, daß dem, der wenig hat, dies genommen und er hinausgeworfen wird ins Finstere, wo ist Heulen und Zähneklappern. Die soziale Ungleichheit, die auf spezifische Weise durch höhere Bildung verstärkt wird und damit auch negative soziale Befindlichkeiten weiter bündelt, ist ein stetes Wagnis in großen Zivilisationen, weil sie zu Instabilitäten mit ungewissem Ausgang führt oder dazu beiträgt und weil die Beruhigung, dafür ist ja dann das Gewaltmonopol des Staates zuständig, eine äußerst oberflächliche Betrachtung der Dinge darstellt. Wissenschaft und Bildung sind, unter diesem Blickwinkel, modern gesprochen, eine ungleich verteilte soziale Ressource, was allerdings schon Max Weber wußte, vgl. Zitat Windolf, a.a.O. Sie wird angeeignet mit dem Ziel, soziale Ungleichheit für sich auszugleichen, ist also vorzugsweise ein Bestreben derer, die keine anderen Ressourcen geerbt haben und keine andere Ressourcenbildung vornehmen können.

Anfang der 60er Jahre betrug in der BRD der Anteil der Hochschulabsolventen etwas unter 5 % eines atJ. Seit den späten 60er Jahren hat sich in der öffentlichen Meinung der Erwerb einer Hochschulqualifikation als private Ressourcen-Bildung im Wirtschafts-(Verdrängungs-)wettbewerb und als Schubkraft des persönlichen Aufstiegs weithin durchgesetzt. Aus den ehemaligen 5% sind inzwischen einige 20% geworden und die Tendenz des kommenden Jahrhunderts geht auf 30% und mehr zu. (Die erfolgreichen Abschlüsse des Studiums liegen jedoch weit darunter, besonders weit in Deutschland.) Der - bezeichnenderweise - von der sozial-liberalen Koalition in Bonn 1977 aufgehobene Numerus Clausus hat das hervorgebracht, was man später die Massenuniversität nannte, in der, wie Prof. Erichsen, als er Präsident der WRK war, entdeckte, Humboldt angeblich erstickt worden sei (H.-U. Erichsen, 1993).

Dieses Bedürfnis, sich solche Ressourcen anzueignen, massenhaft als soziales Verhalten, als Konstituante der Individualisierung der Lebensstile und der Autopoiesis entwickelt, übersteigt inzwischen das volkswirtschaftliche Bedürfnis nach ihnen - jedenfalls, soweit es der Arbeitsmarkt vermittelt - beträchtlich. Das hat in nicht geringem Umfange sowohl mehr Gleichheit hervorgebracht, insofern eine wachsende Zahl von Menschen an einem gehobenen Lebensstil und Lebensstandard teilnehmen, soziale Prozesse mitgestalten können, die Abgehobenheit von Eliten durch die Masse hochrangiger Bildungspotentiale relativiert wird u.a.m., hat auf der anderen Seite aber neue Ungleichheiten gefördert.

Die Lohnabhängigen sind aufgespalten, das ist ein erster gravierender Tatbestand. Die Hochqualifizierten verdienen mehr. Die auf dem Niveau von "Angelernte" Beschäftigten (d.h. ohne Abschluß, aber nicht unbedingt in völlig unbedarften Hilfsprozessen) gleich 100 gesetzt, verdienen die Hochschulabsolventen in Deutschland 205%, in Großbritannien 239%, in den USA 256% (Quelle: DUZ: 6 / 1999, S.7). Diese Differenz ist jedoch niedriger als zuvor. Für 1976 wurde (für Deutschland) ein Unterschied von 243% gemessen. Weiter (geschichtlich) zurückgreifende Untersuchungen berichten über Unterschiede bis zu über 400%. Der Rückgang ist also bedeutend - und die Differenz wird sich vermutlich weiter und weiter abbauen bis auf eine imaginäre Größe, wo sie sozial schon nicht mehr relevant ist. Auch Windolfs Annahme, gestützt auf eine ausgedehnte Literatur (Windolf, ebenda, 233f) besteht darin, daß fernerhin, mit dem Fortschreiten der Bildungsexpansion, die Unterschiede geringer werden.

Das aber schließt nun nicht aus, meint er, daß sich die Einkommensunterschiede innerhalb der Gruppen der Hochqualifizierten vergrößern. Sie werden sich, mangels günstigerer Angebote, trotz gleichen Qualifikationsniveaus über eine Unzahl von Bereichen mit den unterschiedlichsten Qualifikationsanforderungen zerstreuen, bis weit in die Anlerntätigkeiten hinein und dort für eine Verdrängung der weniger Qualifizierten sorgen. Damit geht auch die Zerreißung der sozialen Schicht der Lohnabhängigen weiter. Denkbar ist eine Tendenz zu einer Art doppelter Polarisierung der ganzen Gesellschaft: In hochwertige und geringerwertige Qualifikationen, in mit Arbeitsplätzen Versorgte und in chronisch Arbeitslose (wiederholte Arbeitslosigkeit bei kurzen Unterbrechungen mit unzusammenhängenden Jobs.)

Mit einer solchen Aussicht stellt sich das Paradoxon der Bildungsexpansion auf eine neue Handlungsebene um: Der sich selbst überlassene Arbeitsmarkt ist außerstande, den kulturellen Ansprüchen einer Gesellschaft der Moderne und einer zu fordernden Sozialverträglichkeit in ihr gerecht zu werden. Die neoliberale Erwartung, daß mit dem Zurückfahren der Frequenzen für Hochqualifikationen sich auf einer niedrigen Ebene von Bildung und Qualifikation des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters die Dinge von selbst richten, kann begraben werden.

Vielmehr sollte folgendes gelten:

Die aus den Bedürfnissen der Bevölkerung hervorgehende starke Bildungsdynamik ist einerseits ein spezifischer Entwicklungsvorteil für die moderne Gesellschaft, zugleich aber eine gewaltige Herausforderung und Belastung für die öffentlichen Haushalte, die Wissenschaft und Hochschulen aufbauen und unterhalten müssen. Darüber hinaus stellen sich kulturelle und soziale Ansprüche her, deren Einordnung in den Gesellschaftsprozeß spezielle Mittelaufwendungen und Steuerungsfähigkeiten erfordert. Beide Leistungen könnte aber eine moderne Gesellschaft erbringen, weil mit wachsender Bildung und Hochqualifikation so großer Bevölkerungsteile und mit einem schier unerschöpflichen Arbeitsangebot auf mittlerer und unteren Ebene alle Voraussetzungen gegeben sind, umschichtbaren gesellschaftlichen Reichtum und disponible Ressourcen für derartige Erfordernisse zu schaffen. Im Falle des Mißlingens (und genau dort wird die neoliberale Sackgasse enden) wird die moderne Gesellschaft einer superreichen Großfamilie gleichen, deren moralisch-sozialer Zusammenhang sich zersetzt und die in Exzessen von Ausgrenzung, Gewalt, Haß, und allerlei Perversitäten zugrunde geht.

Den von Windolf vermutete Prozeß, der hier und da die Besitzstände der überkommenen Eliten untergräbt, sollte man sich weder als zu einfachen, noch als allzu verwickelten Vorgang vorstellen. Die Angehörigen etablierter Eliten empfinden keine existentielle oder Daseinsfurcht, weil eine nach Ressourcen gierende "Masse" auf sie zukäme, sondern sie sehen einen ganz selbstverständlichen Zustand der Weltbedeutung ihres Milieus, ihrer geistigen oder nationalen oder industriellen Kultur in Gefahr (z.B. daß Humboldt an deutschen Universitäten nichts mehr gelte, daß "deutsche Schüler bei internationalen Wettbewerben" immer schlechter abschneiden, Sportler in Sydney acht Medaillen weniger als in Atlanta erringen, den Deutschen einige Tausend Computer-Experten fehlen - etc.).

Sie reagieren nicht hysterisch-paranoisch, sondern kalt rechnend. Der Ansturm auf die Hochschulen findet bei ihnen keine ungeteilte Zustimmung, die wachsenden Mittelanforderungen werden - ohne nähere Begründung - zurückgewiesen und die Losung ausgegeben, mehr Leistungen für weniger Geld. Man macht sich immer weniger Mühe, ein solches Desaster mit den Bedingungen des Standorts Deutschland zu begründen. Die vorherrschende Entscheidungslogik lautet: Basta. Die Politik erhält den Auftrag, mit Hilfe des Fiskus die weitere Expansion des Hochschulwesens einzudämmen.

Anfang Dezember 2000 wurde, nachlesbar in aktuellen Presseinformationen (Presse 2000), im Bundesland Sachsen vorgeführt, wie dieser Mechanismus funktioniert: Ein Gremium, das sich erklärtermaßen nur aus Nichtlandeskindern zusammensetzt, also eine an Beratungstischen agierende, dezidiert bürokratische Behörde, setzt die Forderung nach Reduzierung des sächsischen Hochschulwesens um 1.715 Stellen in praktische Regelungen um. Das sieht dann so aus, daß die aus guten universitären Gründen seit Jahrzehnten an den Technischen Universitäten etablierten Geistes- und Sozialwissenschaften abgeschafft werden. Was das Land braucht, sind einspurig fahrende Fachleute, Spezialisten, festgelegt auf ein enges, kostengünstig vermitteltes, zugleich unmittelbar verwertbares Expertenwissen. Was ausgetrocknet, wegrationalisiert werden soll, ist das universitäre Denken. Das ist in diesem Falle die historische Errungenschaft der Volluniversität. Ein Paradebeispiel neoliberaler Agenda.

2.1 Hauptachsen gesellschaftlicher Ungleichheit - Bildung als Struktureffekt

Kommen wir also nochmals auf das Problem der Gesellschaftsstruktur als Voraussetzung der Hochschul- und Wissenschaftsentwicklung zurück.

Wir hatten herausgestellt, daß es eine neo(konservativ)liberale Vorstellung von der Herausbildung der Moderne gibt und einen Gegenentwurf. Die Grundlage des liberalen Verständnisses von Gesellschaft ist die soziale Differenzierung nach dem Eigentum und die maximale Eigentumsverwertung durch die vorhandenen Eigentümer-Akteure. Die Regelung erfolgt durch die sogenannten Marktkräfte, die zugegebenermaßen blind und eben deshalb gerecht, unparteiisch und effektiv sind.

Abgefedert wird dieser allgemeine Verdrängungskampf durch Steuerungen (Umverteilung von Erträgen in Geldform), die die soziale Verträglichkeit des Ganzen gewährleisten (sollen). Weitere Steuerungen, welche die Wirtschafts- und politische Macht der Eigentümer-Akteure zivilisieren, ergeben sich durch parlamentarische Verfassungen und den Rechtsstaat.

Man kann sagen, die Hauptstrukturachsen der liberalistisch (kapitalistisch) verfaßten Gesellschaften sind das Eigentum, sowie die Entgegensetzung von geistiger und körperlicher Arbeit.

In der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts verschiebt sich eine der Achsen durch die wissenschaftlich-technische Revolution.

Die Hauptdifferenzierung nach dem Eigentum bleibt bestehen. Man kann diese Strukturen nur durch immer mehr korporatives, kommunales und staatliches Eigentum aufweichen. Über diese Entwicklung, die ja intensiv ingang ist, bilden sich Akteurs-Konstellationen, die in einigen Jahrzehnten auch den Konsens für eine andere Politik finden könnten.

Die Hauptachse der Arbeitsteilung als Gegensatz körperlicher und geistiger Arbeit verwandelte sich durch den technischen Progreß in den Gegensatz von kreativer und repetitiver Tätigkeit. Auf dieser Achse sind Elemente körperlicher Arbeit in unterschiedlicher Dichte integriert.

Kreative und repetitive Tätigkeit bilden dabei ein Kontinuum, bei dem von links nach rechts die kreativen Elemente abnehmen, die repetitiven zunehmen. Die Extremlagen, kreative Tätigkeit ohne jedes repetitives Element und umgekehrt, repetitive Tätigkeit ohne jede kreative Komponente, werden gelegentlich vorkommen. Ob sie als Soziallagen bedeutsam sind und inwiefern, wird man untersuchen müssen.

Dieser Modernitätsprozeß, in dem stets starke Turbulenzen stattfinden werden, erfordert ein wachsendes Bildungsniveau aller Mitglieder der Gesellschaft. Kindheit, Mann und Weib, wie Goethe sagt, allerdings auf der Grundlage der Herausbildung eines starken Hochqualifikations-Hochbildungs-Sektors.

Heute sind, trotz eines Anteils von > 20% atJ. mit Hochschulbildung (darunter aber ein großer Teil mit nicht abgeschlossener), noch weit unter 20% der Gesamtheit der Beschäftigten Hochschulgebildete. Sie werden in den nächsten 2 Jahrzehnten auf 30% und mehr ansteigen, was der technischen Entwicklung und dem Ausmaß informationsverarbeitender Tätigkeiten einigermaßen gerecht werden wird.

Ein weiteres Drittel wird eines mittleren Bildungsniveaus bedürfen, was man am besten durch eine Revitalisierung des Typs der nichttechnischen DDR-Fachschulen realisieren könnte (Sie bildeten s. Zt. 46% aller DDR-Fachschulkapazitäten). Heute ist man auf dafür nicht ausreichend eingerichtete berufliche Schulen angewiesen, deren Bildungsprofile durch Zusatzqualifikationen mühsam aufgestockt werden. Hier ließen sich wirksamere und von den Qualifizierungswilligen gern angenommene Lösungen finden.

Ein letztes Drittel umfaßt einfache Facharbeiter- und Anlernqualifikationen. Dazu soll hier nichts weiter ausgeführt werden.

Man kann die durch Eigentumsunterschiede gegebene Gesellschaftsstruktur und soziale Differenzierung und ihre weitgehenden Folgen in absehbarer Zukunft nicht überwinden. Die Verwertung von Kapitalressourcen unter den Bedingungen der Privateigentumswirtschaft hat jedoch schwerwiegende soziale Verwerfungen im Gefolge. Was als das "Ende der Arbeitsgesellschaft" bezeichnet wird, ist eine Folge der unaufhörlichen Eliminierung von regulär beschäftigten Arbeitskräften aus dem Wirtschaftsprozeß. Das mündet dann ein in eine enorme Diversifizierung der Arbeitsverhältnisse vom Outsourcing bis zu Teilzeitjobs, Jobsharing usw. - bis hin zur Absurdität der "Arbeitskraft-Unternehmer", wo z.B. ein Kellner oder ein Kranführer oder LKW-Fahrer als Kleinunternehmer auftreten (d.h. sich verdingen), ohne eine Gaststätte oder einen Kran oder einen LKW zu besitzen.

Die ständige Ausgliederung von lebendiger Arbeitskraft, weil durch technische Leistungen überflüssig, mündet ein in einen hochbleibenden Sockel von Arbeitslosigkeit, in zerrissene Berufsbiographien und Beschäftigung unter dem Qualifikationsniveau, insbesondere bei Frauen und Jugendlichen und in ein ständiges Unterangebot an Lehrstellen. Ein allerdings weniger gravierendes Detail ist die sog. Akademikerarbeitslosigkeit, mehr aber unterqualifizierte und berufsfremde Tätigkeit. Was langfristig an Erosion der Sozialverhältnisse daraus folgt, kann kaum überblickt werden.

Um schwere Erschütterungen der modernen Gesellschaft wird man nicht herumkommen. Die von Rechts kommende Radikalkritik dieser Verhältnisse und ihre Gewaltneigung, Ursache und massenhafte Quelle der Neonazi-Bewegung, ist jedoch heute schon gut einsehbar. In den tonangebenden Medien fängt man sogar schon an, nicht länger die DDR-Kindergärten dafür verantwortlich zu machen, sondern aktuelle wirtschaftliche und politische Entwicklungen. Bei den wirklichen Ursachen ist man indes noch nicht angekommen.

Man kann auch nicht ausschließen, daß sich als Folge wirtschaftlicher Ausgrenzung künftig ein links-radikales Chaotentum stärker ausbreitet. Das neoliberale Gesellschaftsverständnis steht dem ziemlich ratlos gegenüber, auf das Gewaltmonopol des Staates vertrauend, zur Bewahrung der Demokratiekultur aufrufend. Einzig zuverlässig ist aber die Uralterfahrung, daß gesellschaftliche Mißstände zu Rebellionen führen und daß diese immer anders beginnen und anders verlaufen, als man es erwartet hatte.

Das aus der Bildungsdifferenzierung gegebene soziale Gefälle bis hin zur Erosion tragender gesellschaftlicher Strukturen kann auf absehbare Zeit nicht überwunden werden. Jedoch läßt sich seine weithin beschädigte soziale Verträglichkeit verbessern oder wiederherstellen. Notwendig dazu ist u.a. die Verbesserung der öffentlichen Ordnung, die Gewährleistung von mehr Rechtssicherheit, die Ableistung von mehr gesellschaftlicher Aktivität in "freier Trägerschaft", die Steigerung des kulturellen kommunalen Angebotes im weitesten Sinne des Wortes. Die Bedeutung dieser Faktoren zeigen fast alle einschlägigen demoskopischen Untersuchungen. Die Formel, auf die Pierre Bourdieu das Befinden seiner Tausenden von Probanden in den Suburbs französischer Großstädte resümierend brachte, lautete: Ein Gefühl von beständiger Sinnlosigkeit (Bourdieu, 1997). Politiker, Wirtschaftsprominente und Sozialwissenschaftler sollten sich diesen Befund ständig vor Augen halten.

Aber den entscheidenden Bereich stellt doch die unter den gegebenen Umständen weiterentwickelte Wirtschafts-, Arbeits- und Betriebskultur dar. Durch den Massencharakter dieser Sozialverhältnisse, insbesondere durch die kultivierende und zivilisatorische Wirkung von Bildung und Qualifikation, entstehen in allen Regionen beträchtliche Bevölkerungs-Potentiale, die durch ihre besondere Interessenlage fähig sind, eigene wirtschaftliche bzw. berufliche Lebensinhalte hervorzubringen. Bei hinreichendem Masseneffekt sollte dies ausreichen, Eigentums- und Machteliten in ihrer disfunktionellen Wirkung und Selbstherrlichkeit zu beschneiden. D. h., eine zahlreiche hochgebildete und sozialaktive Gesellschaftsschicht gibt Grund zur Hoffnung auf eine Alternative zur neoliberalen Versinterung und Unverträglichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Hoffnung, mehr nicht, aber immerhin berechtigte Hoffnungen, wenn sie auch noch hinter dem Horizont liegen; eine sichere Entwicklungsperspektive auf eine bessere Gesellschaft sind sie heute noch nicht.

2.2 Exkurs: Moderne Hochschulreife und differenzierte wissenschaftliche Bildung versus "deutsches" Abitur

Die Problemliste der Hochschulreform schließt auch eine Reformierung der in Deutschland vermittelten Hochschulreife ein. Forschung und Lehre an den Universitäten und Hochschulen wird auf gravierende Weise von der Leistung und dem Stil der hochschulreife-vermittelnden Schulen mitgeprägt - zumindest insoweit, wie Studenten das hochschulpädagogische und das korporative Milieu sowie die akademische Leistungsfähigkeit mitverantworten. Es gibt zwei Gründe, auf diesen Fokus hinzuweisen. Wie wir oben zeigten, mehren sich die Anzeichen, daß quantitativ wie qualitativ der Erwerb von Hochschulreife den Anforderungen an die moderne, informationsbestimmte Gesellschaft nicht mehr gewachsen sind. Während sich die Beherrschung von Fremdsprachen durch den stattfindenden Kulturaustausch, durch individuelle Aktivitäten und Mittelverausgabungen ständig verbessert hat, klagen die Hochschulen über Mängel im mathematischen und naturwissenschaftlichen Wissensstand. Klagen auch über Defizite in der Motivation und der Fähigkeit zur wissenschaftlichen Arbeit. Man sieht die Folgen in der verheerenden Abbrecherquote (Divergierende Angaben: nach Windolf (ebenda S. 214) für die 80er Jahre: 28% , aktuell 25% , nach Klemm/Weegen, Universität Essen, bis zu 40%).

Reform der Schulen gymnasialen Typus

Eine Reform der Abitur-vermittelnden Schulen ist unaufschiebbar. Allzuviele einflußreiche Kräfte ziehen jedoch, überlagert von ihren Vorurteilen und einer gänzlich unangebrachten Vergangenheitsverklärung in die Richtung der Konservierung des auf die klassische humanistische Bildung orientierten alten deutschen Abiturs und behindern eine Spezifizierung und Modernisierung der Gymnasialstufe. Dabei spielt auch eine Rolle, daß viele gute Gymnasien bestrebt sind, sich als Eliteschule zu behaupten bzw. dahin zu streben und sich in diesem Leistungs- und Profilierungswahn über alle Erfordernisse einer modernen Bildungsdifferenzierung hinwegsetzen. Unverkennbar sind von bestimmten Parteien bzw. Interessengruppen getragene Bestrebungen, höhere Schulbildung durchgehend als Elitebildung auszugestalten, mindestens einer breiteren Oberschulbildung für die "normale" Bevölkerung ein Eliteschulsystem aufzupfropfen. Dies wäre dann der Ausgangspunkt, auch die Hochschulbildung sektorial als Eliteförderung fortzusetzen oder, in einer anderen Variante, die Hochschulen von Eliten zu beherrschen lassen, die dann u.a. auch brauchbaren Nachwuchs für den Spitzenbedarf der Wirtschaft bereitstellen, einschließlich allfälliger höherer postgradualer und Zusatzqualifizierungen.

Bildungseliten: Am Problem der Eliten ist nicht ihre unbezweifelbare Existenz bedenklich, sondern die Idee, die daraus hervorgeht, die sich ausprägende Moderne benötige das Agieren diverser Eliten, die eine destruktive Masse in Form und Dienstbarkeit halten. Daß eine Idee gefährlicher sein könnte als die ihr zugrunde liegenden Realität, mag sich befremdlich lesen. Die Idee, das Bildungswesen möge Eliten schaffen, führt jedoch unweigerlich zu einer destruktiven, ausgrenzenden Schul- und Hochschulpolitik, die verheerende und irreversible Sozialzustände erzeugt, von denen oben schon die Rede war. Dazu trägt schon die allgemeine Mittelverknappung bei, die elitäre "Logik", wenn schon wenig Mittel für Bildung und Ausbildung zur Verfügung stehen, dann sollten sie aber (vorrangig, nur) dort eingesetzt werden, wo es sich vom Effekt hergesehen "lohnt". Das Problem, das entsteht, ist nicht die Existenz und Funktion von Bildungs- und ihr komplementären Eliten, diese können durch rechtsstaatliche, ordnungspolitische oder auch einfach durch wirtschaftliche Gegebenheiten "domestiziert" werden. Was aber irreversibel ist, das sind die Folgen der Ausgrenzung, die Austrocknung der kapillaren Vielschichtigkeit der Hochqualifikationen, die Verlagerung von Humankapital (letztlich ganzer Produktionsbranchen) in beliebige globale Räume und die Weiterzeugung von Eliten durch Eliten (das Syndrom ihrer exzessiven Selbstreproduktion), die zu einer dem demokratischen Modernezeitalter sich entfremdenden Sozialstruktur führen müßte. Das Endstadium eines solchen strukturellen Desasters, verbunden mit der Ausgrenzung von immer mehr Menschen aus den (a) kreativen, (b) produktiven Bereichen der Gesellschaft wäre die Ghettoisierung der Eliten, ihr Verbleib in hochsicherheitsgeschützten Arealen, wo sie den Folgen sozialer Deklassierung, den marodierenden und rebellierenden Bevölkerungsteilen das von ihnen monopolisierte Gewaltpotential des Staates - oder das eigener "Schutz"kräfte - entgegensetzen können. Diese Vision ist leider schon ansatzweise in der Welt zu beobachten, es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie auch Länder der Europäischen Union und in welchem Ausmaß erreicht. Man sage nicht, die berühmten Chaostage von Hannover sind nicht wiederholbar, können keineswegs eskalieren oder sich modifizieren und sich auch nicht auf andere deutsche Städte ausweiten.

Deshalb sollte allen Versuchen, mit staatlichen Programmen oder durch Privatisierung bzw. Konfessionalisierung der Gymnasien diesem Bestreben auf Schaffung privilegierter Eliten voranzuhelfen, z.B. mittels extrem erhöhter, undifferenzierter Anforderungen in großer Fächerbreite, mit geeigneten politischen Mitteln und öffentlicher Kritik wirksam entgegengetreten werden.

Anstelle eines in Richtung Elitenbildung reorganisierten konservativ-humanistischen elitären "deutschen Abiturs" sollten zeitgemäße Bildungsgänge für praktisch brauchbare Formen einer breiten, auf einen 40%-50%igen Bevölkerungsanteil (s.u.) ausgelegten modernen Hochschulreife eingeführt werden. Dabei zeichnet sich gegenwärtig die Notwendigkeit von Bildungsprogrammen mit folgender Ausdifferenzierung ab:

  1. Mathematisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung
  2. Geisteswissenschaftlich-geschichtliche Ausrichtung
  3. Sozialwissenschaftlich-ökonomische Ausrichtung
  4. Kulturell-künstlerische Ausrichtung
  5. Sprachliche Ausrichtung und Medien
  6. Praktisch-berufliche Ausrichtungen

Alle diese Bildungsprofile, eingerichtet je nach Fähigkeiten der einzelnen Schule resp. ihres Lehrkörpers, verbunden mit einer verantwortbaren Breite von Allgemeinbildung, sollten zu einem staatlich geschützten Zertifikat führen (Abitur?), das zur Aufnahme eines Hochschulstudiums berechtigt. Statt einem Elitekonzept nachzufolgen, wären die Gymnasien gut beraten, sich diese differenzierten Ausrichtungen und Schwerpunkte zu eigen zu machen und entsprechende Interessen- und Lehrangebots-Kombinationen zu finden, die ihren Bedingungen am besten entsprechen - ohne sich nun zu Fachgymnasien mit einer bereits präformierten Berufsorientierung umzuwandeln. Wenn dagegen in einer HRK-Veranstaltung dies alles lapidar zusammengefaßt wird in der Forderung nach den "klassischen 5 Fächern plus einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Schwerpunkt", dann geht das weit an den Gegebenheiten der Zeit vorbei und man wird weiter folgenlos auf der gleichen Stelle unbefriedigender Leistungen in den höheren deutschen Schulen treten wie bisher.

Die Probleme fangen schon damit an, daß die Abiturientenquote aktuell gar nicht auf die ominösen 40% atJ. zusteuert, die vor 10 Jahren (z. B. von der KMK) erwartet wurde, sondern daß sich die Schüler-Elternschaft ganz anders orientiert:

Schulabschlüsse in % atJ.

  West Ost
Abitur 24 27
Realschule 38 47
Hauptschule 29 16
ohne Abschluß 9 11

Quelle:DUZ 22/99, S. 7

Man muß, das u.a. zeigt diese Tabelle, das breite Interesse an der Gymnasialstufe fördern und den Zugang erleichtern sowie die Bedingungen für einen erfolgreichen Abschluß verbessern. Ostdeutschland, dessen Bevölkerung einen etwas höheren Qualifikations-Index aufweist, ist hier strukturell um einige Schritte voraus. Man kann, insofern daraus keine auf eine künftige Elitenausrichtung abhebende Implikationen abgeleitet werden, Winfried Schulze, derzeitg. Präsident des Wissenschaftsrates weitgehend zustimmen: "Das Abitur (ist heutzutage - H.M.) nicht die richtige Vorbereitung für alle Studiengänge" (DUZ 3/1999, S.14). Schulze kennt sicher die vom HIS-Hannover im Frühjahr d.J. vorgelegten Ergebnisse der Befragung von Erstimmatrikulierten, wonach nur etwa ein Drittel ihre Vorbereitung auf das Studium als gut, ein weiteres Drittel jedoch als unzulänglich beurteilten. Für mehr als ein Drittel könnte das Urteil zusammengefaßt lauten, daß man ihnen zwar ein Abitur vermittelte, nicht aber die Fähigkeiten, das Studium ohne ernste Schwierigkeiten zu starten.

Universitäre und Fachhochschulbildung

Ein solch großer Anteil Hochqualifikationen in der erwerbstätigen Bevölkerung verlangt eine sinnvolle Differenzierung ihres Profils.

Was als Konsequenz der verschiedenen Schwierigkeiten, die Fachhochschulen sowohl akademisch-wissenschaftlich besser zu profilieren wie zugleich die Einsatzmöglichkeiten ihrer Absolventen zu verbessern, abzuleiten ist, wäre die Einsicht, daß es an einem zeitgemäßen Ausbildungsprofil auf mittlerem Niveau fehlt. Mittleres Niveau heißt, höhere Berufsausbildung mit ausreichenden Anschlußstellen zu einer wissenschaftlichen Bildung.

Im Verfolgen eines solchen Ansatzes wollen wir hier folgendes Postulat aufstellen: Das gesamte nationale Bildungsniveau wird anteilig durch Universitäten, Hochschulen, Fachhochschulen, höhere Fachschulen und Berufsfachschulen realisiert. Die Bildungsangebote sind notwendigerweise nach fachlicher Ausrichtung, Ausbildungsdauer und nach dem wissenschaftlichen Anspruchsniveau stark differenziert auszugestalten.

Solche Bildungsprofile müßten nicht vollständig neu erfunden werden. Es existiert in Ostdeutschland noch immer ein bedeutender Erfahrungshintergrund für die Einrichtung von Berufsfachschulen und höheren Fachschulen, in welchen bis zu 20% der Erwerbstätigen eine über die konventionelle Berufsschule hinausgehende Qualifikation erfahren könnten, die auch ein erweitertes Allgemeinwissen (auch Fremdsprachen) einschlösse. Wissen und Können aus dieser ausgedehnten berufspädagogischen Praxis (in der DDR wurden 11.000 Fachschullehrer beschäftigt) sowie die Erfahrungen heutiger anspruchsvoller Berufsschulen wären heranzuziehen, um einen solchen Ausbildungstyp zu konzipieren und den Aufbau derartiger Bildungsstätten einzuleiten. Über ein hochrangiges Berufswissen hinaus müßten besonders techniknahe mathematische und naturwissenschaftliche Kurse gepflegt werden, damit der Umgang mit der Technik auf ein höheres Niveau gebracht wird.

Wichtig wäre dabei, den schwer ausrottbaren deutschen Schulmeistertyp kurz zu halten, damit die maßgeblichen Akteure diese Einrichtungen nicht von neuem mit formellen Bildungsnachweisen überfrachten und den praktisch-schöpferische Umgang mit den beruflichen Herausforderungen beeinträchtigen. Für die etwa benötigten 8.000 bis 10.000 Lehrer und Ausbilder in einem solchen Bildungswesen, die hier eine bedeutende berufliche Lebenschance finden würden, wäre eine anspruchsvolle pädagogisch-wissenschaftliche Weiterentwicklung ihres Qualifikationsprofils zu sichern.

Von den dabei entstehenden Berufsfachschulen und höheren Fachschulen könnte man erwarten, daß sie vorrangig die Adressaten einer der, wie oben angedeutet, spezielleren Abiturausrichtungen werden würden. Mit einer Ausdehnung der Vielgestaltigkeit Hochqualifikationen in die Richtung mittlerer Niveaus, die berufspraktisches und wissenschaftliches Denken synthetisieren können, würde ein starker Impuls gesetzt werden, das gesamte beruflich-technisch-wissenschaftliche Denken der Bevölkerung weiterzuentwickeln. Zugleich würden vernünftige Barrieren errichtet gegen die zu befürchtende Inflation von akademischen Abschlüssen und Überqualifikationen für Tätigkeiten, die einerseits weniger wissenschaftlichen (genauer: naturwissenschaftlich-technischen) Bildungs- und Ausbildungsaufwand erfordern, andererseits den Interessen, Bedürfnissen und Fähigkeiten dafür prädestinierter Erwerbstätiger entgegenkämen. Denn davon kann auch künftig nicht abgesehen werden: Bei allem Bildungsaufwand und modernen Lehr- und Lerntechniken, die mentale und intellektuelle Unterschiedlichkeit der Menschen bleibt erhalten, was uns veranlaßt zu ergänzen, daß sich damit nicht Geeignete und Ungeeignete, Eliten-Würdige und -Unwürdige, Bessere und Schlechtere gegenüberstehen, sondern Bessere in unterschiedlicher Gestalt.

3. Die neoliberale Unverträglichkeit von Bildung und Wissenschaft

Das neoliberale Zeitverständnis reagierte auf das rapide Anwachsen der Hochschulqualifikationen u.a. mit dem Horrorszenarium einer wachsenden struktuellen Fehlbildung des deutschen Beschäftigtenpotentials, seiner, so Kohl 1986, sozialen Schieflage. Die Rede ging von einer "Überproduktion von Qualifikation". Windolf, den Diskurs Anfang der 80er Jahre kommentierend, schreibt: "Arbeitslose Ingenieure, Lehrer und Juristen (später kamen Betriebs- und Volkswirtschaftler hinzu. H.M.) werden als besonders bedrohliches Signal einer wirtschaftlichen und politischen Krise wahrgenommen." (ebenda, 203).

Im gewählten Bildausschnitt stand das Gespenst einer verheerenden Akademiker-Arbeitslosigkeit, begleitete vom Fehlen unmittelbar produktiv Tätiger mit hohen Berufsfähigkeiten. Man ging in den 70er Jahren von 26.000 arbeitslosen Hochschulabsolventen aus, eine Zahl, die sich bis 1988 auf 140.000 erhöht hatte. Die 80er Jahre endeten, so rechnete man, mit einer Arbeitslosenzahl, die einem vollen Absolventenjahrgang entsprach. Dies, so war anzunehmen, würde sich im weiteren Verlauf noch beträchtlich steigern.

Windolf errechnete, daß bei einzelnen Gruppen ein verheerender Effekt eintrat. Vom Basisjahr 1975 aus gesehen, habe sich die Arbeitslosigkeit bis Ende der 80er Jahre bei weiblichen Fachhochschulabolventen auf 730%, bei Frauen mit Hochschuldiplom auf 1.519% erhöht. Das sei noch sehr unvollständig, weil ein beträchtlicher Teil der Frauen mit Fachhoch- und Hochschuldiplomen ziemlich bald aus dem Erwerbsleben verschwindet.

Aus der Nahperspektive (sein Buch erschien 1990) konnte Windolf offenkundig den mittelfristigen zeitlichen Horizont dieser Vorgänge nicht deutlich genug sehen. Die Umstellung der Wirtschaft auf hochqualifizierte Belegschaften kam langsamer ingang, als der technische Fortschritt hat vermuten lassen. Zudem wurden Arbeitsplätze, die älteren Technologien entsprachen, beseitigt (vor allem in Banken und Verwaltungen, wo der PC-Einsatz traditionelle Tätigkeiten ablöste. Gleichzeitig begannen die staatlichen Einrichtungen (Administrationen, Schulen), Arbeitskräfte freizusetzen. Diese Strukturwandlungen gingen bemerkenswerterweise zu Lasten der Frauen vor sich; zweifelsohne ein Verdrängungsvorgang, der eine hohe Quote Hochqualifizierter in der erwerbstätigen Bevölkerung zur Voraussetzung hatte.

Trotz neuer Einrichtungen wie die Frauenbeauftragten und gesetzlicher Regelungen für das Personalmanagement geht die Ausgrenzung von Frauen aus dem Wirtschaftsleben weiter und weiter. Dennoch wird heute dieses seit den 80er Jahren kolportierte Verhängnis schon weit weniger hektisch gehandelt. Die Zahlen und einige sehr offenkundige Tatsachen in der Wirtschaft sprechen gegen die Apokalyse massenhaft sozialabgestürzter Akademiker. Betrachten wir eine neuere Statistik (Institut der deutschen Wirtschaft, Köln, Hrsg. 2000):

Nach diesen Angaben gab es 198.000 Arbeit suchende Akademiker, 13% weniger als 1997. Ebensoviel waren es 1993. Bis 1997 war diese Zahl auf 227.000 gestiegen.

Seit 1994 rechnet man mit ca. 275.000 Hochschulabschlüssen (1986 = 156.000), also sind heutzutage ca. 83% eines Absolventen-Jahrganges akut arbeitslos. Ob 80% oder 100% eines Absolventenjahrganges: Die Arbeitslosenquote, bezogen auf die Frequenz des Hochqualifizierten-Potentials ist offenbar seit den frühen 80er Jahren ziemlich stabil geblieben.

Die Altersstruktur dieser Arbeitslosen wird leider nicht mitgeteilt. Sie verteilt sich aber mit Sicherheit über mindestens 30 Jahrgänge. Zum höheren Alter hin vermutlich zunehmend. Das ergäbe durchschnittlich je Jahrgang eine Quote von 2.8%. Diese Statistik hat den Schönheitsfehler, daß sie die (beträchtliche) Rate der Frischdiplomierten nicht berücksichtigt (sie soll 1992 bei 22-24% gelegen haben, gegenwärtig bei 11,8% (im Osten 5,3) - was unklar bleibt ist, ob es sich um einen Trend handelt oder bloß um "ein gutes Jahr") - und daß man nicht erfährt, wieviele eine berufsfremde Tätigkeit akzeptieren, bzw. weit unter ihrer Qualifikation tätig sind und es aufgegeben haben, in einen Beruf mit wissenschaftlicher Qualifikation zurückzukehren. Gezählt werden nur die Unverzagten, die um entsprechende Arbeitsangebote nachsuchen. Es gibt das böse Wort, daß Deutschland die gebildetsten Würstchenverkäufer und Taxifahrer der Welt hat. Zugleich gibt es ein Konzept, der Wirtschaft per Greencard 30.000 hochqualifizierte Kräfte aus dem Ausland zuzuführen. Man sieht an all dem deutlich nicht das "Paradoxon der Bildungsexpansion" (u.a., ebenda S. 218), das die Neoliberalen seit 15 Jahren umtreibt, sondern den schwerfälligen Umgang einer nicht technik- aber wissenschaftsskeptischen neoliberalen Wirtschaft, die notwendigen Strukturumstellungen zügig und effektiv zu vollziehen. 2,8% je Altersjahrgang: Dieses Phänomen ist ärgerlich, aber nicht desaströs. Es handelt sich nicht um strukturelle Fehlbildungen, sondern um eine Anpassungsschwäche, ein "adaption lag".

Unsere Quelle unterscheidet dankenswerterweise für 1999 zwischen West und Ost. Während 1999 in den westdeutschen Ländern 4.530 weniger auf Jobsuche waren als 1998 (immerhin ein Minus von 3,1%), waren im geringer bevölkerten Osten - 4.170 mehr arbeitslos, ein schon fast charakteristisch zu nennender Zuwachs von 7,9%. Das freilich ist der horrende Ausdruck für die Erosion wichtiger sozialer Strukturen in einer wirtschaftlich prekären Region.

Alle diese Dinge sind schlimm genug, aber sie geben keinen Anlaß, von einer verheerenden Akademikerschwemme zu sprechen, die man durch einen kräftigen Rückbau der Hochschulen austrocknen müsse. Vielmehr zeichnet sich gesamtdeutsch bei Ärzte, Apothekern, Lehrern, Naturwissenschaftlern und Sozialpflegeberufen ein nicht unbedeutender Rückgang der Stellensuchenden ab. Im Falle der Informatiker vermutet die Bundesregierung bekanntlich ein Defizit von Zehntausenden, das sich fortsetzen wird. Statt der als erforderlich errechneten 45.000 betreiben derzeit nur 19.000 ein entsprechendes Studium. Wenn der Politiker Rüttgers sagt, Kinder statt Inder, so verkennt er die Schwierigkeit, deutschen Kindern die Akzeptanz von oder gar Begeisterung für Mathematik und Informatik beizubiegen. Wir erwähnten oben schon den verheerenden Umfang ausbleibender Hochschulabschlüsse und sinkender Abitur-Quoten.

Nun ist die Arbeitslosigkeit unter Hochqualifizierten nicht nur intern mit sich selbst, sondern auch extern zur Gesamtarbeitslosigkeit in Beziehung zu setzen.

Es ist nachgewiesen, daß die Hochschulabsolventen deutlich weniger häufig arbeitslos sind als die weniger intensiv Gebildeten. Der statistisch exakte Nachweis gilt als schwierig. Nach Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung lag sie im Sommer 2000 um 4,3% im Osten und 5,5% im Westen. Im Land mit der höchsten Arbeitslosenquote in Deutschland, Sachsen-Anhalt, lag sie bei 3,5%. In umgekehrter Lesart hat sich die Arbeitslosenquote bei Ungelernten drastisch erhöht: von 1993 mit 13,3% auf 1998 mit 25,8% (Daten IAG, © Globus 6418). Wir haben oben schon in Erwägung gezogen, daß in diesem Phänomen zwei Effekte stecken: Ein positiv zu deutender, nämlich Bildung sichert - zumindest in einem statistisch meßbaren Umfang - höhere beruflich-wirtschaftliche Disponibilität - und ein negativ zu deutender: Höhere Bildung verdrängt in der Qualifikationsskala tiefer gelegene Beschäftigte. Wachsen der sozialen Ungleichheit; s.o.

Es gibt aber noch eine andere Wirkung, die weniger hartnäckig zur Diskussion gestellt wird. Die vielen Hochqualifizierten treten als Konkurrenten gegen die an, die, auf bereits vorhandene Privilegien gestützt, in der Lage wären, den Gegenwert für ihre Bildung auch zu bezahlen. (Die dies aber auch nicht tun, weil es in Deutschland - im Gegensatz zu den USA z.B. oder zu englischen oder französischen oder gar japanischen Elite-Instituten noch keine Studiengebühren an öffentlichen Hochschulen gibt.)

Das eigentlich Problem scheint uns zu sein, wenn schon die Arrivierten in Sorge sind um ausbrechende Verdrängungskämpfe, was man nie wird exakt beweisen können, sie damit die Furcht artikulieren, daß durch Bildung soziale Chancengleichheit entsteht und daß damit die Anzahl der Fälle wächst, bei denen der soziale Aufstieg von der Leistung, vom persönlichen Format des Menschen abhängt und nicht von den Beziehungen in ihrem exklusiven sozialen Umfeld.

Woher wir kommen, kann man bei Windolf dokumentiert finden, wenn er mitteilt, wie sich die Studierenden in einer extrem klassenprivilegierten Gesellschaft, dem Wilhelminischen Deutschland; zusammensetzen. Bei Ärzten, Apothekern, Rechtsanwälten/Richtern lag 1887 die Weitergabe der Berufswahl an den Sohn bei oder über 60%. Bis 1934 hatte sich diese "Berufsvererbung" auf über 70 bis 81% verstärkt (Windolf, ebenda, S.78). Diesen Trend verfestigte die Nazi-Herrschaft durch die von ihr betriebene berüchtigte Schließung (starke Zugangsbeschränkung) der Universitäten und Hochschulen.

1887-1891 gehörten die Eltern (Väter) der 12.565 Studenten Preußens zu ca. 23% der gesellschaftlichen Oberschicht an, Unternehmer, Handwerker und Kaufleute waren mit 35% vertreten, mittlere Beamte mit 21%, mittlere und kleine Landwirte mit 12,5%. Väter mit dem Status Angestellter und Arbeiter zählten 0,4% (Windolf, ebenda 58, eigene Berechnungen und Rundungen, addiert nicht zu 100).

Vergegenwärtigt man sich, daß Preußen in diesem Jahrfünft ca. 32 Mio. Einwohner hatte, davon 5,2 Mio. Volksschüler, dann bildeten 12.500 Studenten ohnehin eine extreme Minderheit (bezogen auf die Schülerzahl = 0,24%) (Quelle: Bibliographisches Institut Leipzig und Wien, Hrsg. 1897, 189, 192). Es gelangte nur jeweils 1 Schüler von ca. 450 in den Kreis der Hochqualifizierten. (Die Rechnung ist ein wenig ungenau, da von Schüler-/Studenten-Gesamtheiten ausgegangen wird und nicht von der exakten Kennziffer atJ = Frequenz je alterstypischen Jahrgangs.) Das Ausmaß an sozialer Privilegierung, das diesen Verhältnissen zugrunde liegt, ist uns heutigen kaum noch vorstellbar. Wir hatten oben schon, im Zusammenhang mit der von Windolf präsentierten Literatur, erwähnt und bemerkt, daß durch Bildungsexpansion nicht etwa, wie wir meinten, die sozialen Unterschiede schlechthin ausgeglichener und verträglicher werden, sondern sie sich revitalisieren und an Unverträglichkeit gewinnen.

Andererseits ist nicht zu verkennen, daß durch die Expansion der Hochschulbildung ein Moment der sozialen Egalisierung in die Gesellschaft kommt. Es ist schon gravierend, ob eine Person je 450 den Status der Hochqualifikation erlangt, oder 25 von 100, wie heute unterstellt werden muß. Es ist dabei aber nicht anzunehmen, daß ein solcher Effekt nur in eine einzige Richtung wirkt.

Bildung eben ist nur eine Komponente in der auf Arbeitsteilung beruhenden sozialen Struktur. Sie ermöglicht ein fortgeschrittenes Maß an Chancengleichheit, weil sie eine Ressource ist, die Menschen beim Ausbau ihrer sozialen Lage nutzen können, aber sie ist ein unsicherer Besitzstand - im Unterschied zum Besitz an Kapital, Immobilien, familiäre Statuszugehörigkeit - denn es hängt vom Angebot an Arbeitsplätzen ab, ob man seine Qualifikation verwerten kann - oder nicht.

Daraus ergeben sich konfliktreiche Konsequenzen: Die Hochqualifikationen sind eine Ressource, eine sichere Lebensrevenue elitärer und arrivierter Schichten, die, insoweit sie die Schlüsselposition in Wissenschaft und Forschung besetzt halten, damit zugleich einen wirksamen Beitrag für die Weltgeltung deutscher Technik und Wirtschaft leisten. (Sehen wir ab von der Rolle jener anderen Fraktion, die die Manager und Organisatoren der großen Unternehmen stellen.) Sie sind eine "meritokratische Elite" mit ausgeprägten Schließungstendenzen, aber zugleich auch eine "Funktionselite", die einen bestimmten Bedarf an Erneuerung und Revitalisierung zu den Zugang hochbefähigter Menschen hat.

Insofern aber moderne Hochqualifikationen diesen exponierten Personenkreis überschreiten, also wirklich massenhafte Qualifikationen sind, sind sie ein einfaches, aber ebenso vielseitig wirksames Strukturelement im gesellschaftlichen Organismus - lebenswichtig unter anderen wichtigen Strukturelementen. Der heute in den jüngeren Jahrgängen erreichte Stand von 25% atJ. ist nur ein Durchgangsstadium. Er ergibt sich daraus, daß Umstände eingetreten sind, daß die Marge von 30%, wohin die Dinge am Ende der 80er Jahre tendierten, inzwischen wieder unterschritten wurde.

Die moderne Gesellschaft muß sich bei folgender Frage entscheiden: Sollen Bildung (und Wissenschaft, woraus sie erwächst) vorrangig ein Funktionselement moderner Ressourcen-Verwertung sein, vereinnahmt von einer Minderheit meritokratisch-funktioneller Eliten, was nach Lage der Dinge immer auf die Verwertung von Kapital hinausläuft? Bildung und Wissenschaft also eine Veranstaltung, die von der Wirtschaft, d.h. von den großen Unternehmen dominiert wird (die Universitäten und Hochschulen als "Dienstleister" in der Reserve) - oder ein Kulturgut moderner Zivilisation, ein Element moderner Lebensqualität, oder, wie man auch sagt, Bildung und Wissenschaft als Wert an sich? Das würde ja nicht ausschließen, daß man auch, je den konkreten Umständen angepaßt, einen nachhaltigen wirtschaftlich-produktiven Gebrauch davon machen kann.

Noch mehr, sollte man nicht annehmen, daß die Wirkung von Bildung und Wissenschaft viel nachhaltiger sein würde, solange sie nicht vereinnahmt ist von elitären Sonderinteressen und sekretiert wird von der auf einzelne wirtschaftlich-technische Ziele gerichteten und beschränkten Verwertung? Kann man also aus der konservativ-liberalen Unverträglichkeit von Bildung und Wissenschaft, soweit sie eine Massenveranstaltung ist, herauskommen und diese Lebenselixiere der Gesellschaft anders, sowohl komplexer als effektiver in die den sozialen Organismus und seine Stoff- und Wertkreisläufe einordnen?

Die Frage ist hier - und das ist der eigentliche dissente Ausgangspunkt des Hochschuldiskurses - wie man sich die kommende Gesellschaft vorstellt: als ein arbeitsteilig-differenziertes homöostatisch-systemisches Sozialgebilde, nicht in einem starren, sondern, wie es der Stammvater deutscher Systemtheorie, Ludwig v. Bertalanffy (1982) schon in den späten 30er Jahren ausdrückte, in fließendem, sich wandelndem, homöostatischen Gleichgewicht befindlich - oder, fügen wir hinzu, als ein von Verdrängungskämpfen, von feindlichen sozialen Polarisierungen, Interessendissens und Struktur-Anachronismen versinterter und vernarbter Torso, in dem das sozial Überalterte nicht vernünftig absterben und das Neue nicht recht gedeihen kann, in welchem die weitere Expansion der Hochschulen als unmöglich und dafür ihr Rückbau als unvermeidlich angesehen wird.

4. Die neoliberale "stagnative Förderung" der Universitäten und Hochschulen

1977 ereignete sich eine entscheidende Zäsur im bundesdeutschen Hochschulwesen. Die Zulassungsbeschränkungen wurden weitgehend aufgehoben. Die Zahl der Studienanfänger stieg zwischen 1978 und 1987 um 27%. Das geschah jedoch extrem fächerspezifisch. So stieg der Zuwachs in den Wirtschaftswissenschaften bei Männern um 70%, bei Frauen um 179% (Windolf 1990, 111).

Ohne uns in der Menge möglicher statistischer Untergliederungen zu verlieren, ist leicht einzusehen, daß die exzessive Erweiterung des Studierendenvolumens in den 70er und 80er Jahren aus einem Doppeleffekt heraus erfolgte: Die Veränderungen in der Produktion, in der Industrie, in der gesamten Wirtschaftsstruktur, das hohe Innovationstempo der Technik, das Anwachsen des tertiären Sektors, die in den frühen 60er Jahren einsetzten (bereits Ende der 50er Jahre kam in der BRD das Konzept einer bevorstehenden technischen Revolution bzw. "Zweiten industriellen Revolution" auf) und die sich immer mehr steigerten, haben zu einer anderen Lage im Arbeitskräftebedarf geführt. Das Qualifikationserfordernis stieg, der Typus des wissenschaftlich gebildeten, d.h. geistig umsichtig, selbständig arbeitenden Beschäftigten wurde massenhaft verlangt. Daraus gingen dann Tätigkeiten hervor, die sich von den herkömmlichen durch vielseitigere Anforderungen und mehr geistige Inhalte unterschieden, die weniger körperlich anstrengend waren, weniger monoton und schmutzig und dazu Aufstiegsmöglichkeiten versprachen. Natürlich veränderte das die Vorstellungsmuster von moderner Arbeitswelt bei Millionen Menschen (in den 70er Jahren dann die aufkommenden Hightech-Systeme). Das Bedürfnis, solche Berufe zu erlernen, stieg steil an. Dieser Trend wurde dadurch verstärkt, daß schon seit den 60er Jahren die High-school-Bildung, d.h. der Besuch der Oberschulen und Gymnasien, häufiger gewünscht und häufiger realisiert wurde. Zwar blieb die BRD dabei hinter den USA und Japan weit zurück, aber der Druck der Bevölkerungsbedürfnisse nach höherer Schulbildung verstärkte sich stetig.

Die "nichtintendierten Folgen der Bildungsexpansion" unter funktionalem Aspekt.

Per Politik-Entscheidung gegen den Protest der Konservativen wurde also die Limitierung der Ausbildungsfrequenzen von Universitäten und Hochschulen abgeschafft. Es war schnell klargestellt, daß die ohnehin schon erreichten hohen Studienfrequenzen der späten 70er Jahre nur ein Anfang waren, daß eine weitere Steigerung stattfinden würde. Auf diese Erwartung hin passierte das, was vorherzusehen war. Die Meinungsführer der Öffentlichkeit reagierten mit pessimistischen, abwertenden Sichtweisen auf die, wie Windolf es nennt, nichtintendierten Folgen der Bildungsexplosion (ebenda, 200): Es wurde errechnet, daß es zu einer hohen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bei Hochschulabsolventen kommen würde, während im Bereich qualifizierter Facharbeiter die Kräfte fehlen.

Der renommierte bildungspolitische Korrespondent der DUZ, Karl-Heinz Reith, listet den neoliberal-konservativen Widerstand gegen die Bildungs- und Hochschulexpansion beim Übergang in die 80er Jahre wie folgt auf: "Zusätzliche Übergangshürden zum Gymnasium und Druck auf Grundschullehrer, wieder mehr Kinder in die Hauptschule zu schicken. Noch Anfang der 80er Jahre gab es um Bundesbildungsministerium einen Staatssekretär, der den Ländern vorschreiben wollte, höchstens 16% eines Jahrganges zum Abitur zuzulassen. Der 'BAFöG-Kahlschlag' unmittelbar nach Amtsantritt der Regierung Kohl ... die falsche Horrorprognose der Bund-Länder-Kommission über eine angebliche 'Akademikerschwemme' Mitte der 80er Jahre - oder zehn Jahre später die groß aufgemachte 'Spiegel'-Serie über den 'Dr. Arbeitslos': Das alles zielte darauf an, junge Menschen vom Studium abzuschrecken." (Reith, 2000)

Zugleich, "arbeitsteilig", wurde ein düsteres Szenarium für die Universitäten und Hochschulen entworfen, wurde beklagt, daß keine Elite-Ausbildung mehr stattfände, daß die Universitäten "in der Masse ersticken" werden. (Der spätere bayerische Wissenschaftsminister, W. Wild 1981, Stifterverband, Hrsg. Villa-Hügel-Gespräche 1981) Es entstand der Kampfbegriff der Massenuniversität. Im common sense der bundesdeutschen Gesellschaft ist also genau das passiert, was Max Weber, der "für diesen Prozeß bereits den Begriff der 'sozialen Schließung' geprägt" hatte, über ihre Vorgehensweisen ausgeführt hat - zitiert bei Windolf (ebenda, 54): nach jeder Öffnung der Bildungsstrukturen folgt die Tendenz zur Schließung, zum Rückbau, weil Grundstrukturen des sozialen und wirtschaftlichen Status quo infrage gestellt würden. Windolf, Weber folgend: "Eine soziale Gruppe sichert ihre (wirtschaftliche) Macht, indem sie konkurrierende Gruppen von den Ressourcen und Mitteln der Machterhaltung ausschließt." (ebenda)

Ohne diese schonungslose Wertung zu teilen, zitiert Windolf aus dem Diskurs der 70er/80er Jahre folgende Meinungen über die Bildungsexplosion (soweit sie die Universitäten und Hochschulen betraf): "Frühzeitig haben Kritiker auf die nicht-intendierten Folgen der Bildungsexplosion hingewiesen. Verdrängungswettbewerb, Prozesse sozialer Schließung und eine allgemeine 'Überqualifizierung' der erwerbstätigen Bevölkerung (sind) nur einige negative Folgen, die der Bildungsexplosion angelastet werden. Das erweiterte Bildungsangebot hat die Struktur der sozialen Schichtung in einer Weise verändert, sie so von den politischen Akteuren nicht beabsichtigt worden war (! - H. M.) An die Stelle des ökonomischen Kapitals tritt das Bildungskapital (! - H. M.), das neue Formen der sozialen Ungleichheit begründet. ... Der Bildungsabschluß wird zu einem reinen Selektionsinstrument, mit dessen Hilfe knappe Arbeitsplätze verteilt werden." (Windolf 1990, 200f). Und mit Blick auf die Machterhaltungsstrategien der Arrivierten: "Sozialer Aufstieg durch die Universität kann nur gelingen, wenn das Diplom ein knappes Gut bleibt." (ebenda, 55).

Einiges ist, meinen wir, schon nahe an der Sichtweise der Apologeten des Status quo. In Wirklichkeit stören diese Öffnungen die privilegierten Schichten, die darin eine ungerechtfertigte Freigabe von Ressourcen zur persönlichen Aneignung unerwünschter Newcomer und eine ihnen dadurch erwachsende Konkurrenz bei der Verteilung und Umverteilung von Sozialprodukt (von Steueraufkommen) erblicken.

Jedenfalls ist die Zurücknahme der Öffnung des Bildungssystems und die soziale Schließung der Universitäten und Hochschulen (wie schon wiederholt in der europäischen Geschichte) das in den Unterströmungen des Common Sense der Arrivierten seither wirkende Agens des Umganges mit ihnen. Von den eher verbalen Ruppigkeiten, mit denen das konservative Lager Anfang der 80er Jahr und im Zusammenhang mit der politischen "Wende" 1982 auftrat, ist man längst zu ökonomischen Pressionen übergegangen. Das erfolgte zunächst indirekt, hat sich aber heute zu sehr unmittelbaren Formen gemausert. Wir kommen darauf zurück.

Der (scheinbare) Ausweg aus dem Bildungsparadoxon: Die "stagnative Förderung"

Bevor man in den 90er Jahren zur direkten Reduzierung oder Austrocknung von Hochschulpotentialen überging, wurde nach dem 1977er Öffnungsbeschluß zunächst einmal eine verheerende Stagnation eingeleitet: Die Hochschulpotentiale wurden eingefroren, während die Studentenzahlen explodierten, weil ein aufgestautes gesellschaftliches Bedürfnis zunächst bloßgelegt wurde und dann zum Ausbruch gelangte. In bestimmtem Umfange wuchsen die Potentiale der Universitäten und Hochschulen weiter, jedoch unbedeutend und verzerrt. Wir wollen diese Art Förderung die "stagnative Förderung" nennen, eine Art Doppelstrategie, die zugleich beschleunigt und bremst.

So stieg die Anzahl der Studenten (altes Bundesgebiet) von 1975 = ca. 800.000 auf 1991 = 1.530.000 - eine Steigerung von 100 auf 191%, die Anzahl der Professoren aller Hochschultypen jedoch von 24.000 auf 25.600 - eine Steigerung von 100 auf 106,7% (vgl. BMF&T, a.a.O. S. 165).

Die Proportion zum Mittelbau, dem für die studentische Betreuung bekanntlich eine große Bedeutung zukommt, gestaltete sich nicht viel günstiger. Er erweiterte sich von 58.300 Beschäftigten 1975 auf 72.600 1994/95. Das sind 124%, wobei 10 Jahre lang, bis 1985, eine Erweiterung nur um 2.000 Beschäftigte stattfand, also auf 103,8% (!). Der mit Dauerstellen ausgestattete Mittelbau ist heute, nach langen Jahren schmerzhafter Reduzierung - bis auf eine Restgröße - so ziemlich abgeschafft. Wie empirische Untersuchungen an 5 namhaften Universitäten (Meyer 1995) zeigten, sind die "unterhalb" der Professorenebene ausgewiesenen wissenschaftlichen Mitarbeiter keineswegs in toto das, was man früher unter dem akademischen Mittelbau verstand, es sind dies vielmehr großenteils Mitarbeiter von Forschungsprojekten oder - in geringerem Umfange - akademische Räte und C2-Kräfte, auch Lehrkräfte mit besonderen Aufgaben oder befristete Promovenden, teils Drittmittelkräfte, insgesamt eine vielgestaltige Gefolgschaft der C3- und C4-Professoren, fast jeder in einem unikalen Arbeitsrechtsverhältnis. Es hängt, auch das zeigten die empirischen Nachforschungen, sehr von den persönlichen Beziehungen in diesen unübersichtlichen Personalstrukturen, dem persönlichen Engagement der Professoren, auch von den Umständen der Forschungsprojekte ab, was an Betreuungs- und Ausbildungsleistungen der Studentenschaft, insbesondere dem ersten Studienjahr und den Diplomanden zugute kommt.

Gleichzeitig mit dieser gravierenden Verschlechterung der Ausbildungsleistung je Student in den 80er Jahren sank der Finanzaufwand je Student um mehr als ein Drittel. (Lt. Statistisches Bundesamt, © Globus 6508, werden z. Zt. je Student ca. 100.000 DM ausgegeben. Darunter für einen Studenten der Humanmedizin 407.600 DM, für Sozial- und Geisteswissenschaften 71.800 DM für den Kunst- und Kunstwissenschafts-Studenten und weiter abwärts bis 25.000 DM für den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler an Fachhochschulen)

Zur Unterausstattung gehört auch das Phänomen, daß sich in Deutschland 1,8 Mio. Studenten 800.000 reguläre Ausbildungsplätze zu teilen haben - und dieses Mißverhältnis besteht seit Jahrzehnten.

So entstand, zusammen mit der Stagnation der Personalkapazitäten, jenes Mißverhältnis an den Hochschulen, das nur leidlich gemeistert werden konnte, wenn sich die Mitarbeiter, insbesondere die Professoren und ihre engeren Teams, zu einer außerordentlichen Arbeitsanstrengung entschlossen, die komplex, Lehre wie studentisches Lernen, wie die zu erbringenden Forschungsleistungen unter Ausnahmebedingungen stellte.

Zum ambivalenten, zugleich sportlich-ehrgeizigen wie technisch-diskriminierten Begriff dafür geriet das Wort Überlast. Dem Gewichtsheber, der eine (für den Normalmenschen) lebensgefährliche Überlast zur Strecke bringt, winkt olympisches Gold. Dem Truck-Besitzer, dem die Polizeikontrolle Überlast bescheinigt, droht der Entzug der Zulassung. Das sind beachtenswerte Unterschiede. Ebenso ambivalent wird seit den frühen 80er Jahren im Hochschulalltag dieser Zustand empfunden. Einerseits ein hohes Berufsethos kennzeichnend, andererseits für Beteiligte (Personen und Institutionen) ruinös. Ganze Personalgruppen fühlen sich wie ausgebrannt. Hoffnungen in den 80er Jahren, durch "Untertunnelung des Studentenberges" (Warten auf die Reduzierung der Geburtenhäufigkeit in Deutschland) in den 90er Jahren ein Licht am Ende des Tunnels zu erblicken, wurden bald enttäuscht.

Anfang der 90er Jahre erschienen diese Verhältnisse eher als "normal", eine Wertung, die die dazu befragten Professoren mit großer Häufigkeit einer ablehnenden, kritischen Reflexion vorzogen. "Normal" allerdings in einem ganz bestimmten Sinne. Dieser schloß die Überlast-Situation ein und bekannte sich zu einer Bewertung, die der von uns schon wiederholt zitierten Formel von Hans-Dieter Narr "des Hochschullehrers Ekstase von Tugenden" folgte. In zahlreichen Interviews, die der Autor 1994/95 durchführte, wird das dann so verbalisiert: eigentlich ist es zuviel, eigentlich geht es nicht, was wir machen usw., aber irgendwie kommt man eben damit zurecht. Ein Hochschullehrerleben, so wurde gesagt, ist eben kein "normaler" Beruf, er kennt keinen besinnlichen Feierabend nach vollbrachtem Tagewerk. Er kennt keine Trennung von Arbeit und Nichtarbeit, er fordert die Totalität der Persönlichkeit, den uneingeschränkten Einsatz. Er erfordert u.U. ein berufliches Martyrium; wissenschaftliches Arbeiten sei Tätigsein in einer menschlichen, intellektuellen Grenzsituation (Meyer 1995, 103).


So weit - so bewundernswert. Es bleibt aber dennoch zu fragen, ob diese Umwandlung der verschiedenen Disfunktionen der stagnativen Förderung und der Überlast in eine mentale-moralische Kategorie der Problematik gerecht wird. Von ca. 80 Professoren naturwissenschaftlicher Fachrichtungen an 5 forschungsstarken Universitäten, die (in ausführlichen Interviews - Meyer 1995, 103, 105) die Lage von Forschungsunits mit insgesamt 966 Beschäftigten reflektierten, gaben 38,5% auf die Frage nach einer defizitären Situation infolge der Überlast keine Antwort, 6,4% bezeichneten die Lehre als defizitär - dagegen 41% die Forschung und nur 2 Befragte meinten, daß Defizitäres in beiden Bereichen auftrete. Im Zusammenhang mit einer anderen Frage äußerten 74%, daß die Beanspruchung durch die Lehre "normal" sein, 23,7%, daß sie zu hoch sei. Obgleich, nach Fachrichtungen differenziert, einige bemerkenswerte Unterschiede auftreten, liegt die Statuszufriedenheit bei der Lehre um ein Mehrfaches über der zur Forschung. (Bei den Biologen wird die Situation der Lehre - Statement: "sie kommt zu kurz" - weit kritischer bewertet als bei den anderen Fachrichtungen).

Nun mag des aus der Sicht der Bildungsaufgaben der Universitäten erfreulich sein, aus der Sicht der Hochschulforschung ergeben sich bedenkliche Indizien. Genaugenommen ist Forschungstätigkeit und Publizieren das, was an Zeitbudget noch verbleibt, nachdem Lehrdeputate, Gremienarbeit, Verwaltungsverpflichtungen, Personalfriktionen und Drittmittelbeschaffung abgegolten sind.

In dieser Situation soll der Personalabbau weiter und weiter gehen. Inzwischen probt selbst der vielfach als penetrant apologetisch denunzierte sächsische Wissenschaftsminister, Hans-Joachim Meyer, den Aufstand. "Die Universitäten sollen mit der Faust auf den Tisch schlagen!" (lt. DUZ, 10/2000, S. 14f). Er kündigte am 10. Juli d.J. seinen Rücktritt an, wenn der von der Landesregierung geforderte Abbau von weiteren mehr als 1.000 Professorenstellen in den nächsten 3 - 8 Jahren vollzogen werden soll (nach DUZ, 14/2000, S. 6). In Berlin wurden 1992 bis 1998, zusätzlich zum Abbau der ostberliner Hochschulkräfte, 1.000 Professorenstellen gestrichen. Der Abbau setzt sich fort. In einem TV-Interview anläßlich seiner Investitur (am 22.1.1997) erläuterte der neue Präsident der TU Berlin, jetzt habe die TU etwa 600 Professoren, prinzipiell, wenn es gelingt, hochqualifizierte Mitarbeiter zu beschäftigen, könne man natürlich eine moderne Technische Universität mit 320 Professoren auf exzellentem Niveau betreiben. Man sollte hier geltend machen, daß man natürlich auch das kleine Hochschulpotential von Island auf ein exzellentes, allen internationalen Ansprüchen gerecht werdendes Niveau bringen kann. Die Frage ist nur, ob es der je Bevölkerungsmillion geforderten Wissenschaftsdichte in Deutschland - und damit den vielfältigen Standortkriterien (in Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Kultur, samt ihren politischen Voraussetzungen) dann noch gerecht wird.

Die Zeichen stehen auf Stagnation und Erosion. Nordrhein-Westfalen hatte 1977/78 = 281.000 Studenten, 1987/88 = 435.000, z.Zt. mehr als 500.000. Die Tendenz geht auf weiteren Zuwachs. Dafür sollen demnächst 2.000 Stellen für wissenschaftliches Personal, insbesondere Professorenstellen, gestrichen werden. Die Aufzählung ließe sich für alle anderen Bundesländer fortsetzen.

Es ist sicher nicht ohne Logik, daß man auf eine Auflistung der Defizite in der Personal- und technischen Ausstattung sowie in der Bereitstellung von Finanzmitteln verzichtet, ist doch vorauszusetzen, daß ihre Beseitigung im Bereich bloßer Utopien läge. Dafür wird ausgeführt, daß die Ausgaben für die Hochschulen von 28 Mrd. 1990, auf 33,7 Mrd. DM 1995, auf 35,7 Mrd. DM 1998/99 gewachsen seien, was einer Erhöhung in 10 Jahren auf 127,5% in den westdeutschen Ländern entspricht, d.h. jährlich durchschnittlich 2,75%) Da man, im Unterschied z.B. zu US-amerikanischen Statistiken, nirgends zwischen constant- und current-Wert der angegebenen Budgetsummen unterscheidet, vermuten wir eine ähnliche Steigerung der Preisindizes wie in anderen Bereichen (wenn nicht sogar höher, weil der darin enthaltene Preisauftrieb für Immobilien, Mieten, technische Ausrüstungen überdurchschnittlich hoch ist). Allgemein betrug er 4,2% für 1993 (vgl. Statistisches Bundesamt, Hrsg.: Datenreport 1994. S. 328ff), in der zweiten Hälfte der 90er Jahre ging er zurück. Die Budgeterhöhungen werden also vom Preisauftrieb in etwa kompensiert. Man kann ohne Schwarzmalerei feststellen, daß die Ressourcenzuführung für die Hochschulen weiterhin seit Jahren stagniert, wo sie nicht faktisch absolut rückläufig ist.

Bemerkenswert erschien den Verf. des BBF 96, daß die F&E-Ausgaben der Hochschulen absolut und anteilig gewachsen sind, 1995 etwa 15 Mrd. DM betrugen und damit 45% des Gesamtetats von Forschung und Lehre betragen. Gewachsen, wenn auch langsam, sei auch der Anteil an Drittmitteln für F&E. Hervorgehoben wird (S. 81) auch das Wachsen der Budgets für die Grundlagenforschung. Diese habe sich von 1981 mit 10.447 Mrd. DM = 23,8% auf 1992 mit 17.338 Mrd. DM = 29,2% vergrößert. Nun ist das mit der 1993 wie 1996 wiederholten Aussage, der Normalfall sei die angewandte bzw. gezielte Grundlagenforschung, eine Frage der Klassifizierung von Forschungsthemen. Rainer Rilling hat schon in seiner Kritik des 1993er BBF "Die Sprache der Ökonomie" auf die Fragwürdigkeit des hier benutzten Vokabulars hingewiesen und mit Verweis auf die angekündigte Zurücknahme von (natürlich bloß "wünschenswerten") Vorhaben der "rein erkenntnisorientierten Grundlagenforschung" ein Abbau von Strukturen der Grundlagenforschung zugunsten ökonomisch rasch verwertbarer Projekte ausgemacht (Rilling, 1993).

4.1 Stagnations-Folgen für die Forschung - Das Drittmittel-Syndrom

Was hier als Überlast in der Lehre dem Diskurs über die Lage der Hochschulen für mehr als ein Jahrzehnt eine dramatische Note gab, wirkte sich natürlich, trotz gegenteiliger Beteuerungen vieler Hochschulpolitiker äußerst schädlich auch für die Forschung aus. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist vom Auszug der Spitzenforschung aus den Universitäten die Rede. Erst wurde das bestritten, heute ist weithin die Forderung gestellt, die Universitäten und Hochschulen sollten in diesem Punkt vom übermäßigen Ehrgeiz Abstand nehmen und sich geeigneten Projekten der außeruniversitären Forschung andienen, insbesondere der Max-Planck-Gesellschaft. Da könnten sie dann Projektbereiche übernehmen, von denen sie nicht überfordert wären (vgl. dazu Kreckel, 1999, ebenda).

Es wäre aufwendig, aber ohne weiteres möglich, ein dickes Buch nur mit den veröffentlichten Klagen der Hochschulen über den Zustand der Hochschulbauten, der Überalterung und dem Fehlen von Forschungstechnik, der mangelhaften Austattung der Bibliotheken, dem Fehlen von Mitteln für Reisen und Kommunikation usw. zusammenzustellen, alles Zustände, die auch mit dem Anhängen an die außeruniversitäre Forschung nicht erledigen.

Im März 1999 veröffentlichte der bekannte Hochschulpolitiker und langjährige Präsident der Universität Hamburg, Deutschlands reichster Stadt, Jürgen Lüthje, einen Beitrag in der DUZ, in der er darauf hinwies, daß die Hamburger eine Spitzenstellung im Einwerben von Drittmitteln einnehmen. Mit 150 Mio. DM DFG-Gelder finanzieren sie exzellente Projekte mit 2.000 Personalstellen. Trotz Steigerung der Mittel für Großgeräte sei die Ausstattung dennoch katastrophal (in: DUZ, 5/1999). Man müßte Präsident Jürgen Lüthje fragen, was sind das nun für Spitzenprojekte, die mit einer katastrophalen Ausstattung betrieben werden?

Man muß sich darüber hinaus vergegenwärtigen, daß die Verteilung der Drittmittel extrem linkssteil (Pareto-verteilt) ist, wie die Statistiker sagen. Das heißt, die Mittel sind nach dem Matthäus-Prinzip verteilt: wer da hat, dem wird gegeben werden. Und - wenn schon die im gesättigten Drittmittel-Etat wühlenden Hamburger ihre Ausstattungen katastrophal finden, was erst bemerken die, die am mageren Ende der Drittmittel-Schlange stehen? Ein rundes Drittel der pareto-verteilten Drittmittel der DFG fließen nämlich nur 10 Hochschulen zu, 10 von insgesamt 315, davon 70 in Ostdeutschland. Überhaupt fördert die DFG nur 89 Hochschulen, das sind 28% der gesamten Hochschullandschaft. Von diesen 89 erhalten 50%, 45 also, 90% aller DFG-Drittmittel. Die anderen 50% der Empfänger teilen sich in den verbliebenen Rest von 10% der Gelder (Kreckel, Reinhard: DUZ 24/1999, S. 14f). Nun gibt es ja, wie man weiß, außer der DFG noch eine ganze Reihe anderer Fördergesellschaften, die Volkswagenstiftung, den Stifterverband der deutschen Industrie, ferner einige Hundert Spezialstiftungen. Deren Mittel jedoch sind eher unbedeutend. Es ist eine Legende, wie Wolfgang Adamczak / Peter Döge nachwiesen (1994), daß über Drittmittel die Industrie einen bedeutenden Anteil der Hochschulforschung finanziert - er betrug, alles in allem, nur 7%!

Anders die staatliche Förderung der Industrie: Spätestens seit den Recherchen von Edelgard Buhlman (1996) ist es in der Öffentlichkeit bekannt: Nur 30 Empfänger teilen sich in fast die Hälfte der Fördermittel des BMBF und des BMWi. Unter Berücksichtigung der Töchterunternehmen der Großkonzerne und der Fördermittel, die vom Verteidigungsministerium sowie von der Europäischen Raumfahrtagentur in die Industrie fließen, errechnete sie allein für den Daimler-Benz-Konzern 2,4 Mrd. F&E-Fördermittel, das sind, um einen Maßstab zu finden, 48% (!) aller Mittel, die (allein) das BMBF an die deutsche Wirtschaft ausreicht (ca. 5.000 Mio. DM. BBF 96, S. 547). Dies, obgleich die hier zusammengefaßten Unternehmen bedeutende Gewinne erwirtschafteten, in derem Lichte diese Zuwendungen nicht als F&E stimulierende Förderungen erscheinen, sondern als Gratifikationen, ausgereicht von der politischen Klasse. "So kassierte Siemens 91 Millionen Mark (Fördermittel)", schreibt Bulmahn, "und konnte sich über einen Gewinn 835 Millionen DM freuen." (ebenda)

Da ist zum einen der Aspekt, daß die vielfach geforderte praktische Verwertbarkeit der Hochschulforschung natürlich wesentlich für ihre Verwendung als Bestandteil der industriellen F&E ist. Für die Unternehmen ist das sehr lukrativ: Der Staat bezahlt direkt oder über Drittmittel diese Projekte, eine Summe, die in die Milliarden geht, und die private Wirtschaft verwertet sie. Der Gesamtaufwand an F&E in Deutschland betrug 1999 = 75,7 Mrd. DM und überstieg den von den Betrieben geleisteten sog. internen Aufwand damit um über 19 Mrd. DM. Dahinter steht die Tätigkeit von ca. 27.000 Vollzeitkräften. (Vgl. unsere weiteren Angaben nach dem Bundesbericht Forschung 1999/2000, a.a.O.) Hier liegen bedeutende Mittel, die für die Entwicklung der Universitäten und Hochschulen umgesteuert werden können.

5. Das Erneuerungs- und Reform-Syndrom - Der Reform-Diskurs: Was soll und was kann reformiert werden?

Dieter Simon, als s. Zt. Präsident des Wissenschaftsrates, hat seit Jahren auf der Kritik bestanden, daß der Diskurs um die Reform der Hochschulen um immer die gleichen Themen mit etwa immer den gleichen Forderungen geführt wurde. Der Diskurs enthält nichts, was nicht schon immer gesagt worden ist, äußerte er (Simon 1992). Der respektlose "Reform-Kritiker" Ernst-Joachim Meusel, der aus dem Management der Großforschungseinrichtungen kommt, sagt das heute so: daß der 54-seitige Thesenentwurf des Wissenschaftsrates vom 7.7. d. J. eine "prätentiöse Wiederholung von Uraltforderungen" auflistet (Meusel, E.-J. Alte Hüte aufgebürstet. DUZ 14/2000, S. 7).

Meusel führt folgende Themen bzw. Forderungen auf:

Fügen wir noch hinzu: Universitäten als Dienstleister auffassen und ausbauen, das Gewicht der Fachhochschulen erhöhen. Niemand kann bestreiten, daß alles dies Uraltthemen sind, daß niemand solche Schwerpunkte infrage stellt, daß "nur" noch in Rede steht, wie man dies alles praktiziert und verwirklicht.

Zwei Dinge werden sofort deutlich: 1. Warum wiederholt sich der Diskurs beständig, werden immer wieder die gleichen Mängel thematisiert und 2.: Es ist zu unterstellen, daß diese hier genannten wünschenswerten Zustände alle irgendwie im Leben der Universitäten und Hochschulen schon existent sind. Bemerkenswert ist der bei solchen Aufzählungen ostentativ benutzte Komparativ (mehr, besser, höher, schneller, weiter, größer, (der Aufwand) kleiner) usw. Eine Sichtweise, in der sich ein bemerkenswertes Therapiekonzept offenbart.

Es setzt die Eignung des Gegebenen voraus, die "Richtigkeit" von Struktur und Funktion - nur, man muß sie vollkommener handhaben, die Möglichkeiten besser nutzen, mehr arbeiten, besser arbeiten, intelligenter, kreativer denken.

Der fehlerhafte Betrachtungswinkel dieser Art Hochschuldiskurs ist, daß bloß kontemplativ Fehlentwicklungen, Defizite, Disfunktionen usw. aufgezählt, vervollständigt und beschrieben, in eine imperative Ausdrucksweise und sozusagen auf den neuesten Stand gebracht werden, ohne dazu überzugehen, ein Funktionsmodell zu entwickeln, das sie überwindet. Auch werden die Ursachen für diese Funktionsdefizite nicht genannt oder nur exemplifikatorisch beschrieben, was schon vom Ansatz her zu keiner durchgreifenden Prinziplösung führt. Dies alles kann man ad infinitum fortführen.

Gegen dieses Beharrungssyndrom wollen wir hier vorgreifend feststellen, daß es sich weder um eine bloße Summe von Defiziten handelt, die auf eine oder zwei Ursachen oder einige Konstruktionsfehler hinauslaufen, noch um "das beste Wissenschaftssystem der Welt", das nur nicht intelligent und hingegeben genug bedient wird. In der Tat handelt es sich beim deutschen WFH-F&E-System (System von Wissenschaft, Forschung, Hochschulen und industrieller F&E) um ein geschichtlich gewachsenes, hochgradig optimiertes Gebilde, dessen Defizite einerseits aus der immerwährenden Zerrissenheit von Wissenschaft und Gesellschaft, zum anderen aus den vom Globalisierungs-Syndrom multiplizierten systemischen Disharmonien des Neoliberalismus stammen. Was Kritiker und Reformer an Defiziten auflisten, entspricht einem Syndrom von Disfunktionen, einer Art Funktions-Neurasthenie oder Organ-Insuffizienz, zu deutsch: einem spezifischen Schwächezustand, der - soweit das nichtoptimale Funktionieren derart komplexer Systeme überhaupt behebbar ist, aus zwei Anachronismen resultiert: (a) aus der marktwirtschaftlichen Verstrickung der für Wissenschaft und Forschung benötigten Ressourcen und (b) aus ihrer Einordnung in wissenschaftsunspezifische Politikzusammenhänge, insbesondere ihre Bindung an fiskalische Zwangslagen, die wiederum herrühren aus wissenschaftsfremden Machtkonstellationen. Der medizinische Begriff Neurasthenie erscheint völlig angemessen, weil es sich bei den Erfolgsminderungen nicht um fehlendes intellektuelles Potential handelt, sondern um funktionelle Blockaden, die eine größere Leistungsausschöpfung verhindern und Fehlschaltungen auslösen.

5.1 Kritik der "betriebswirtschaftlichen" Reformversuche

Bereits 1993 kritisierte Rainer Rilling im BdWi-Organ "Forum Wissenschaft" den neuen BBF als "Sprache der Ökonomie", sich gegen den neoliberalen Politikansatz auflehnend, Wissenschaft und Hochschulwesen unter das Dirigat der wirtschaftlichen Großunternehmen zu stellen (Rilling 1993). Diese Art Hochschulpolitik war seit Jahren in vollem Gange. Die fortschreitende relative und absolute Reduzierung der Ausgaben der öffentlichen Hand für Wissenschaft und Hochschulwesen und die Verringerung der Forschungsausgaben durch die Unternehmen selbst sollte durch eine, wie es dann später hieß, betriebswirtschaftliche Umorganisation der Hochschulen kompensiert werden. Weniger Mittelbereitstellung, diese aber hochgradig wirtschaftlich-industriell verwerten, das war die Forderung. Danach sollte sich dann die ganze innere Struktur der Hochschulen ausrichten.

Eine solche Umsteuerung stand von Anfang an im Gegensatz zu den Prinzipien, nach denen Wissenschaft zum bedeutendsten Erfolgsunternehmen in der Menschheitsgeschichte geworden ist. Trotz vielfacher Relativierungen und halber Zurücknahmen wurde von den Universitäten und Hochschulen verlangt, sich nach dem Prinzip von Aufwandsminimierung und Effizienzmaximierung auszurichten und ihre Forschungsziele und Arbeitsergebnisse nach den Kriterien marktwirtschaftlicher Verwertbarkeit zuzuschneiden.

Als nachhaltige Heilmittel waren dabei der sog. Globalhaushalt angepriesen worden, eine straffe Leitungshierarchie, perfektionierte Management-Praktiken, Abschaffung des Gruppen-Prinzips und anderer demokratischer Einrichtungen.

Damit sollten drei Ziele angegangen werden:

(1)
Die Selbstverwaltungsfähigkeiten der Hochschulen sollen anwachsen und akademisch-demokratische Prozeduren (Stichwort: Gruppen-Universität) durch eine Management-Verwaltungshierarchie ersetzt, der umständliche interne Hochschulkonsens durch Verwaltungsentscheidungen rationalisiert werden. Zugleich soll damit der Zugriff der Ministerialbürokratie auf die Hochschulverwaltungen wirksamer werden. Mit den demokratisch nicht legitimierten Hochschulräten bzw. Stiftungsräten oder Kuratorien sollen Entscheidungsgremien geschaffen werden, in denen Wirtschaftsprominenz, Sponsoren, Parteienprominenz, Administrationen einen bestimmenden außerwissenschaftlichen Einfluß auf die Hochschulen erhalten. Den Wissenschaftlern wird ein "Mitwirken" an den Entscheidungen in Aussicht gestellt.

(2)
Die sich dramatisierenden Finanzierungsprobleme sollten aus den Beziehungen zwischen Hochschulen und Länderadministration herausgenommen werden und zum Gegenstand hochschulinterner Abstimmungen und innerer Interessenkämpfe mutieren, so daß die Wissenschaftler die Sparzwänge gegeneinander durchzusetzen genötigt sind.

(3)
Mit betriebswirtschaftlichen Argumenten wird versucht, Reformen im Sinne von Strukturbereinigungen und Strukturbeschneidungen voranzubringen. Nach den Kriterien betriebwirtschaftlicher Rationalität und per Verdrängungskämpfen sollen die Hochschulgremien selbst entscheiden, welche Fächer- bzw. Forschungsangebote überflüssig sind. Zusammen mit dem unter (2) Genannten könnte das zusammengestutzte und umgegossene Gebilde dann als ein wünschenswertes Ergebnis einer pervertierten "Selbstorganisation der Wissenschaft" hochgelobt und apologetisiert werden.

Der an den Hochschulen sich bildende Widerstand gegen diese neoliberale Gegenreformation ist in drei strategischen Ansätzen zerklüftet: (a) In einen mitgestaltenden, die Grundidee mittragenden Parallelkurs, der nur punktuell aus Gegenentwürfen besteht, (b) in eine Bewegung, die selbständige, vielfältige Reformprojekte ausarbeitet mit dem Versuch, den fiskalisch-neoliberalen Grundansatz stark zu modifizieren, ohne ihn grundsätzlich abzulehnen, (c) in eine Bewegung mit prinzipiellen Gegenentwürfen, die - allerdings auf sehr verschiedene Weise (und leider nicht immer dezidiert anti-neoliberalistisch) - einen sozial-politischen, ("ordnungspolitischen") Entwicklungsansatz vertritt. Ihre Grundlage ist das Konzept einer besonderen, konstitutiven Rolle von Wissenschaft und Bildung in der modernen Gesellschaft, in der Wissenschaft und Bildung präferente, tragende Komponenten der Sozialstruktur und der demokratischen Politkultur sind - und erst von dieser Position her die Triebkräfte für die F&E der Technik, der Produktion und Wirtschaft formiert. (Und nicht, wie es das neoliberale Konzept vorsieht, in einem umgekehrten, dem genau entgegengesetzten Funktionszusammenhang.)

Aus einem anti-neoliberalistischen Ansatz heraus folgt erst die Idee einer wissenschaftsgerechten Selbstorganisation von Wissenschaft. Das ist keine Tautologie, das bedeutet vielmehr, sich von einer entwickelten Kultur wissenschaftlicher Tätigkeit leiten zu lassen, von den geschichtsträchtigen Traditionen wissenschaftlicher Autopoiesis, von der Ethik wissenschaftlich-korporativer Tätigkeit als soziale Bewegung.

Die Prinzipien der am historischen Grundmuster der Wissenschaftsentwicklung orientierten Formen der Selbstorganisation der Wissenschaft, sind der innerwissenschaftliche Diskurs und die Gewährleistung evolutionärer Entwicklungen. In "reiner Form" existierten sie nie, aber produktive Ansätze gab es in der Ordinarien-Universität, bevor sie erstarrte und pervertierte, gab es in den diversen Modellen der Gruppen-Universität, die dann vor allem exogenen Störgrößen unterlagen. Auch heute in Vorschlag gebrachte Reform-Projekte enthalten viele entwicklungsfähige Elemente wissenschaftlicher Selbstorganisation, die realisiert werden sollten. Die Suche nach dem einen und endgültigen Modell kreativer Wissenschaftsorganisation ist müßig. Selbstorganisation ist nur möglich als strukturelle und institutionelle Pluralität.

Die Selbstorganisation der Universitäten und Hochschulen, wie alle evolutionären Prozesse, sind keine einfachen Zustände von Autonomie derjenigen, die sich selbst für die Berufeneren halten. Selbstorganisation ist keine Spielwiese und kein Schlachtfeld der ihre Besitzstände verteidigenden Wissenschaftsmandarine und autokratischen Großprofessoren. Die Selbstorganisation der Wissenschaft, von der Konstituierung eines Forschungsteams bis zur Organisation einer Großuniversität, von der Konzipierung der Forschungsprojekte bis zur Bewertung ihrer Ergebnisse, ist die Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien und des korporativ-wissenschaftlichen Ethos auf die Wissenschaft selbst, auf den wissenschaftlichen Alltag, auf das Funktionieren wissenschaftlicher Institutionen.

Das bedeutet vor allem, daß nicht die erwartete wirtschaftliche Verwertung über die Akzeptanz eines wissenschaftlichen Projektes, über die Notwendigkeit einer Forschungsrichtung, über die Zweckmäßigkeit eines Fächerangebotes befindet, sondern die Logik des wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts. Die Logik des Fortschreitens der gnostischen Erkenntnisfronten der modernen Gesellschaft.

Die konservativ-liberale Ideologie sagt dazu, das mag ein sehr schöner, ein idealer Zustand sein, aber er ist nicht bezahlbar. Wissenschaft ist nur möglich, insoweit sie sich bezahlt macht. Der wirtschaftliche Erfolg eines Projektes lenkt ohnehin finanzielle und andere Vorzüge auf ihre Schöpfer, man muß dies nicht extra in repressiver Absicht auf beliebige andere Projekte festschreiben.

Gegen die neoliberale Verwertungslogik wenden wir ein, daß es heute ärmlich aussähe mit unserer Kultur, wenn wir nur das hätten, was sich in früheren Jahrhunderten und Jahrzehnten hat bezahlt gemacht. Goethe und Schiller und Herder und Wieland in Weimar haben sich nicht rentiert, sie hat der Großherzog bezahlt. Den einen besser, den anderen schlechter. Hätten die Völker Europas nicht den Ersten und Zweiten Weltkrieg bezahlen müssen und das Wegräumen seiner Schäden, wäre Geld dagewesen ein Jahrhundert lang für ein Vielfaches von dem, was eine üppigst ausgehaltene Wissenschaft je hätte verbrauchen können. Würde nicht die exponentielle Geld- und Kapitalverwertung im Globalisierungsprozeß der wirtschaftlich führenden Länder die originären Springquellen ihres gesellschaftlichen Reichtums für die jeweils nächsten Runden der Geldverwertung aufsaugen, wäre disponibles Geld da noch und noch.

Wenn heute die modernen Völker nicht 2,6 oder 3,1 % ihres Brutto-Sozialproduktes für Hochschulbildung, Wissenschaft und Forschung aufwenden würden, sondern, sagen wir, das Dreifache, würde keiner hungern oder notleiden müssen deshalb. Oder es könnte dann nicht mehr investiert werden. Im Gegenteil, nach einer vielleicht turbulenten Übergangszeit würden Rückkopplungseffekte eintreten, die das Bruttosozialprodukt und die Lebensqualität der Völker in einer heute unvorstellbaren Dimension steigern würden.

Dennoch ist jedem klar, daß gegenwärtig eine solche Summe, die 3% des BSP deutlich übersteigt, nicht aufzubringen wäre, weil dies Interessenkämpfe der heftigsten Art auslösen würde. Jede Regierung, die das versuchte, würde darüber stürzen. Die Machtverteilung in den modern-bürgerlichen Ländern läßt nur einen geringen Spielraum zur Veränderung der entstandenen Umverteilungsproportionen zu. Was nicht gerade für sie spricht.

Es ist also alles "nur" eine Frage des praktizierten Gesellschaftsmodells und der daraus folgenden Steuerungs-, Regelungs- und Umverteilungsprozeduren.

Der derzeitige Rektor der Universität Rostock, Prof. Günther Wildenhain, Mathematiker, behauptete vor einer Enquete-Kommission des Schweriner Landtages, man müsse die Wissenschaftspotentiale, die die DDR geschaffen hatte, heute in Ostdeutschland deshalb abbauen, weil sie zu groß waren. Sie hätten infolge ihrer Überdimensionierung entschieden zum Bankrott der DDR beigetragen, eine solche Wirkung auf die Haushalte müsse künftig verhindert werden (Wildenhain 1998). Das soll hier erwähnt werden, weil selbst unter Wissenschaftlern sich kaum ein Konsens finden ließe, der von der Politik wenigstens eine Verdoppelung der heutigen Wissenschaftsausgaben fordern würde. Bemerkenswert ist auch die argumentative Kurzschlüssigkeit, deren sich hier ein wissenschaftlicher Kopf bedient. Die DDR wandte etwa 6 Mrd. $-Äquivalente für Wissenschaft und Forschung auf. Hätte sie sich finanziell mit einem wesentlich geringeren Betrag bessergestellt? Umgekehrt. Hätte sie an anderer Stelle effizienter gewirtschaftet und die dabei freiwerdenden Mittel der Forschung und dem Innovationsprozeß zukommen lassen, hätte es um die ostdeutschen Wirtschaft per Saldo 1990 besser gestanden.

Vielleicht täte eine Rückbesinnung gut, daß man in der Bundesrepublik - anderthalb Jahrzehnte ist es her - eine andere Auffassung von den Universitäten und Hochschulen hatte: 1984 las man im Bundesforschungsbericht des BMFT: "Die Hochschulen sind in vielen Gebieten, insbesondere aber in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung .. die fachlich wichtigsten Träger der Forschung; sie sind auf allen Gebieten der häufig entscheidende personelle und thematische Nährboden für neue Forschung. Außeruniversitäre Forschung baut in erster Linie auf der Hochschulforschung auf." (BMFT,1984) Letzteres wird heute genau umgekehrt propagiert: möge doch die Hochschulforschung sich den außeruniversitären Institutionen andienen, da habe sie eher eine (letzte) Chance auf exzellente Projekte und Ergebnisse.

5.2 "Neue Modelle" - Selbstorganisation in der Wissenschaft als Modell

In jüngster Zeit sind spektakulär zwei neue Initiativen in die Öffentlichkeit gelangt, das ist das sog. Manifest der Berliner Hochschulrektoren und das von der sog. Mittelstraß-Kommission entwickelte Konstanzer Konzept, man lobt es als das Radikalste aller bisherigen Konzepte. In Hessen wurde im Frühjahr 2000 das Hochschulgesetz novelliert. Überall gibt es irgendwelche Reformvorhaben oder -projekte.

Es wäre ein Beitrag für sich, diese Konzept in ihren Einzelheiten zu diskutieren, man könnte leicht ein Buch damit füllen. Aber das würde viel überflüssige Argumentationen erfordern, nämlich, von den meisten Reformvorschlägen wäre zu sagen, wenn man glaubt, daß sie Erfolge bringen, soll man sie ausführen.

Es muß dazu aber gesagt werden, das Syndrom der Neurasthenien und Insuffizienzen der Hochschulen ist damit nicht aufzulösen, daß man ein "besseres" Modell von Hochschulen und Universitäten erfindet. Denn es gibt prinzipiell kein komplettes "besseres" Modell, das die Funktionsschwächen aufhebt, man müsse es nur erfinden und einführen.

Hochschulen, die ihre arteigenen strukturellen Antinomien meistern, sind hinsichtlich ihrer Verfaßtheit in vielerlei Gestalt möglich.

Es wäre, was die Idee eines, eines einzigen womöglich, Erfolgsmodells anlangt, das Gleiche, als wenn man von der Evolution der Tierwelt sagte, nur eine bestimmte Art könne vollständig den komplizierten Bedingungen des Ökosystems entsprechen. Nein, die Evolution hat eine Vielzahl von höheren Arten hervorgebracht, die Tausende von Daseinswidrigkeiten überstehen. Die erfolgreichste war bisher der Mensch.

Sagen wir, die deutschen Hochschulen als ein hochentwickelter kognitiv-sozialer Organismus leiden an 1000 Funktions-Defiziten. Diese haben fast ebensoviele Verursachungen. Sie zu überwinden ist ein Prozeß von Evolution, Evolution der Funktionsweisen und der ihnen zugrunde liegenden Struktur. Das dafür zuständige, leistungsfähige Prinzip ist die Selbstorganisation der Wissenschaft, ein Prinzip, das sich in den Jahrhunderten, bis weit zurück in die Blütezeit der arabisch-maurischen Kultur, erfolgreich behauptet hat trotz vielfacher administrativer und fiskalischer Eingriffe, vielfach in Koevolution mit solchen Eingriffen.

Die biologischen Prinzipien der Evolution sind das Entstehen neuer Strukturen (Mutation), die Abwehr von Existenzbedrohungen /-gefährdungen und die Akquisition von Ressourcen. Da ein übergeordnetes Regulativ fehlt, bildet das Ökosystem einen riesigen Strukturüberschuß aus und fördert die besser Angepaßten durch Selektion und Ausmerzung der weniger Angepaßten. Das ist in der Gesellschaft mit bloß blinden Kräften, bloß autogenen der Regulierung nicht nachvollziehbar, da die einsetzbaren Ressourcen begrenzt sind und die dafür notwendige Zeit fehlt.

Die Selbstorganisation der Wissenschaft beruht, wie Robert King Merton schon seit Anfang der 60er Jahre herausstellte, auf dem "Science Reward and Communication System" (also etwa: Wissenschaft unter den Bedingungen von Bewertung und Belohnung / Auspreisung.) Das ist konsequent, da Wissenschaft ein Doppelwesen ist, ein kognitives und ein soziales, sowie ein Ressourcen verzehrendes System. Die Herausbildung der Forschungsprobleme und der sog. Erkenntnisfronten ist ein kognitiver Prozeß der Selbstorganisation, ist ein autogeneratives Geschehen der denkend arbeitenden Wissenschaftlercommunity. Ob ein neues Problem, eine neue Arbeitsrichtung Sinn macht, unterliegt wissenschaftlicher Beurteilung, die die zu erwartende soziale Bedeutung mit einbezieht. Danach erfolgt die Auspreisung, zunächst mit einem Vorschuß, daß die Arbeit beginnen kann, dann, nach der Evaluierung des Resultates, mit weiteren, ev. erweiterten Zuführungen.

Die Gefahr, daß dieses Merton'sche Prinzip der Selbstorganisation nicht greift und deformierende Wirkungen hervorbringt, ist groß. Merton selbst sieht sein Funktionieren so, daß (leidigerweise) vor allem dem, der schon hat, gegeben wird (Matthäus-Prinzip). Wissenschaftler neigen ferner durch die bei ihnen herrschende extreme Arbeitsteilung und Aufsplitterung der Erkenntnisgebiete und -fronten dazu, die eigene Problematik weit zu überschätzen, andere Fachgebiete zurückzusetzen, sich einen Verdrängungswettbewerb zu leisten.

Deshalb müssen ebenso kundige wie umsichtige wie angesehene Gremien gebildet werden, die komplex, unter Einschluß aller Belange, zu urteilen verstehen. Stark hierarchisch strukturierte Gebilde sind dafür weniger geeignet, andererseits haben sie den Vorteil, daß bei ihnen der Entscheidungsprozeß und die Ressourcenbereitstellung zügig und konsequent erfolgen. Also muß man auf gute Synthesen bedacht sein.

Jedes Funktionsprinzip neigt zu Einseitigkeiten, also müssen komplementäre Gebilde geschaffen werden - geschaffen durch die Wissenschaft selbst. Administrationen können dabei - außer Beratung und Bewertung - technische Hilfen geben.

Daß die Hochschulen möglichst viel Erfolge in den industriellen F&E-Bereichen haben sollen, ist ein Nonsens. Was macht denn die unternehmenseigene F&E zwischenzeitlich, die (1998) mit 130.400 Wissenschaftlern, 157.600 Mitarbeitern und 57 Mrd. DM Aufwand ein eigenes innovatives Großsystem ist? (Bundesforschungsbericht 1999/2000, S. 105f) Etwa 7 Mrd. DM von dieser Summe erhält sie aus öffentlichen Budgets, von den Hochschulen und von Non-Profit-Unternehmen. Umgekehrt werden die Hochschulen mit nur 1,5 Mrd. DM für F&E-Projekte von der Wirtschaft bezahlt. Das sind zwar knapp 10% der F&E-Mittel der Hochschulen, der Nutzen jedoch, den die Wirtschaft aus der Hochschulforschung zieht, ist bedeutend größer, denn für 13,5 Mrd. DM finanzieren Bund und Länder F&E-Projekte der Hochschulen (Bundesforschungsbericht 1999/2000, S. 100).

Über die industrielle Verwertung Ressourcen zu akquirieren, macht aus dem Blickwinkel der Wissenschaft nur Sinn, wenn damit die Gundlagenforschung nachhaltig gefördert werden kann. Das ist die wirksamste Form, den technischen Fortschritt zu unterstützen und ihn anzuführen. Natürlich versuchen die Unternehmen (erfolgreich), auf dem Umweg über die Akquirierung von Hochschulressourcen ihre eigenen Aufwendungen zu minimieren. Das darf nicht glorifiziert, dem muß ein Riegel vorgeschoben werden.

Der Prozeß der Selbstorganisation, der Zug um Zug die Funktionsdefizite abbaut - und nur so können sie abgebaut werden, als Vorgang innerer Evolution - muß durch die allmähliche Verdoppelung der Aufwendungen für die deutschen Hochschulen wirksam unterstützt werden. Diese Aufgabe muß die Politik lösen - aber die Wissenschaft muß dafür die Beweisführung und wirksame Initiativen beisteuern.

Die Hochschulen des 21. Jahrhundert müssen eine große geistig-kultuelle Mobilisierung der gesellschaftlichen Moderne darstellen.

Es geht nicht an, daß Hochschulen vor allem die Revenuen und die Selbstverwirklichung von 10.000 bis 20.000 Genies und Wissenschaftsmandarinen im Range von Großprofessoren, Ordinarien und Dekanen bilden. Überhaupt braucht die moderne Gesellschaft zur Beherrschung der Hochschulen keine privilegierte geistige Elite, die, insofern Wissenschaft immer Spitzenleistungen generiert und damit immer Hochleistungs- bzw. Hochbefähigungspotentiale hervorbringt, ohnehin ständig als inhärenter Bestandteil der Hochschulbeschäftigten agiert. Vielmehr sollen es 500.000 oder einige Beschäftigte mehr sein, die das wissenschaftlich befähigte Potential der Nation bilden, dort ein schöpferisches Lebenswerk vollbringen können, darunter ca. 100.000 bis 110.000 Forschungskräfte, darunter 40.000 Professoren (z.Zt. sind ohnehin schon mehr als 400.000 Beschäftigte gesamt, darunter ca. 70.000 Forschungskräfte an Hochschulen angestellt, aber unter welchen Bedingungen! Mehrheitlich würden sie in anderen Branchen als Saison- und Wanderarbeiter fungieren.) Es bleibt hier das leicht beschreibbare und zuordnungsfähige Potential der außeruniversitären Forschung außer acht, das ja ein aus der Hochschulstruktur abgezweigter "Bereich unter besonders günstigen Forschungsbedingungen" ist, etwa 35.000 Forscher-Vollzeitkräfte, die desto besser agieren, je enger sich ihre personellen und arbeitsfunktionellen Wechselbeziehungen mit den Hochschulen gestalten.

Diese 500.000 Hochschulbediensteten sollen von 2 Millionen junger Leute, oder einigen mehr, umgeben sein, von Studenten und jungen Doktoranden oder anderen Postgradualen, die sich eine fortgeschrittene Wissenschafts- und eine hochwertige Berufs-Befähigung aneignen. Die Hochschulen sollen dabei innovative Zentren moderner, demokratischer, kreativer Lebensweise sein. Sie sollen durch ihre modernen Anforderungen an die Hochschulreife in größter Breite Motivationen und Impulse auf die begabte Schuljugend und die Elternschaft ausstrahlen.

Geschaffen werden muß dabei nicht ein neues Funktions- (Erfolgs-) Modell, sondern eine im Prozeß der Selbstfindung entstehende Diversifikation und Typenvielfalt von Hochschulen und Universitäten, in einem Prozeß, in dem alles denkbar ist: Umstrukturierungen des Fächerkanons z.B. oder ganzer Universitätsbereiche, Ausgründung von Bereichen, wie derzeit die künstlerischen in Kassel, oder die vielfach oder immer in Rede stehenden technischen Dienste. Ferner: Fusionen, Schaffung von neuen Wissenschaftstypen, wie das in Konstanz vorgesehene Wissenschaftszentrum (vgl. DUZ, 1,2 1999), Einrichtung von Kooperationspartnerschaften weltweit. Und vieles andere mehr. Wir stehen nicht am Ende sich ausdifferenzierender Strukturen, etwa gar am Einstieg in ein nach Optimalitätskriterien verschnittenes, egalisierendes Dienstleistersystem, sondern in einer Zäsur des Hochschulwesens, das eine wesentliche Expansionsrunde hinter sich gebracht hat und nun die "logistische", qualitative Phase seiner Ausbreitung und Bedeutungserhöhung gestalten muß. Gefragt sind dabei nicht administrative und fiskalische Normierungen, sondern evolutionäre Diversifikationen von Struktur- und Funktionszusammenhängen.

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Personalia
Meyer, Hansgünter, Prof. em. Dr. phil. et rer. oec. habil., geb. 1929. Studium der Gesellschaftswissenschaften 1954-1958 an der Karl-Marx-Universität Leipzig. 1960-1965 Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Promotion 1964, 1975-1988 Gastvorlesungen an der Humboldt-Universität zu Berlin, dort Habilitation 1969 (zus. mit Manfred Lötsch). 1965-1991 Akademie der Wissenschaft der DDR, 1973 Professur, Abteilungslt. bzw. Themenlt. für Sozialstrukturforschung und Wissenschaftssoziologie, 1992-1995 Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, 1990-1993 Vorsitzender der Gesellschaft für Soziologie der DDR/Ostdeutschland. Seit 1993: Vorsitzender des Wissenschaftssoziologie und -statistik e.V. Berlin