Mobil im virtuellen Raum?

Eine Entlastung der physischen Mobilität?[1]

 

Peter Zoche

Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung ISI

Breslauer Straße 48

76139 Karlsruhe

peter.zoche@isi.fhg.de

 

Interdisziplinäre Ringvorlesung Kommunikation in der Informationsgesellschaft:

 "Leben und Arbeiten in einer vernetzten Welt"

Institut für Informatik in Kooperation mit Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft, Universität Leipzig, Sommersemester 2001, 30. Mai 2001

 

 

Bevor ich meinen Vortrag mit einer Zusammenfassung beenden werde, sollen drei Themenblöcke näher betrachtet werden:

Eingangs werde ich kurz in die Thematik virtueller Mobilität einführen, diese definieren und sie mit Beispielen bildlich werden lassen.

Daran anschließend werden Ergebnisse der deutschen Delphi-Studie zur globalen Entwicklung von Wissenschaft und Technik vorgestellt, die den künftig hohen Stellenwert virtueller Anwendungen in unserem Alltag prognostizieren. Diese werden im Hinblick auf verkehrliche Relevanz, auf ihre Funktion als virtuelle Mobilität systematisiert. Abschließend wird anhand empirischer Befragungsergebnisse unter deutschen Online-Nutzern virtuelle Mobilität am Beispiel des Chattens vorgestellt und in seinen Konsequenzen für materielles, physisches Verkehrsverhalten analysiert.

 

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 "Der Ort, an dem man sich gerade befindet, der Standort, wird im System fliegender Informationen irrelevant. Und so ist in diesem System auch der Raum als Distanz, als Weite zu einer altmodischen Kategorie geworden." Zu dieser Sichtweise gelangt der Freiburger Soziologe Heinrich Popitz in seiner 1989 erschienenen Analyse dauerhafter, weltweiter Wirkungen fundamentaler Technologien.[2] Die raumbezogene und verkehrliche Relevanz der Telekommunikation ist damit klar zum Ausdruck gebracht. Andererseits ist eine mögliche Zentralisation und Raumgebundenheit, wie sie beispielsweise in Standortentscheidungen von Wirtschaftsunternehmen oder von öffentlichen Institutionen zum Ausdruck kommt - markant in Folge des Regierungsumzugs von Bonn nach Berlin - mit diesem Zitat nicht unterstellt. Allerdings erscheint die individuelle Mobilität durch eine in den Netzen mögliche Beweglichkeit neue Optionen zu erhalten. Für solche virtuellen Bewegungen soll der Begriff der virtuellen Mobilität verwandt werden. In diesem Zusammenhang ist eine definitorische Klärung angebracht. Im allgemeinen Sinne leitet sich der Begriff "Mobilität" aus dem Lateinischen mobilis, beweglich im Sinn von "die Möglichkeit oder Fähigkeit zur Ortsveränderung besitzen" ab[3]. Bei der virtuellen Mobilität ist hierbei eine physische Bewegung nicht impliziert.

 

Insofern verstehe ich virtuelle Mobilität als Sammelbezeichnung für potentiell verkehrsrelevante Telekommunikationsanwendungen. Der Verkehrswissenschaftler Rothengatter zählt hierzu Beispiele auf, von denen er unter adäquaten preispolitischen Rahmenbedingungen eine Substitutionswirkung des physischen Verkehrs erwartet:

·       Telebanking

·       Teleshopping

·       Telecommuting

·       Fernuniversitäten

·       Videolernen

·       Bildschirmkonferenzen

·       Video-Heiratsvermittlung[4].

 

Jenseits der beispielhaften Anwendungen kann auf einer abstrakten Ebene virtuelle Mobilität als Option des Menschen aufgefasst werden, sich mit Hilfe von Informations- und Kommunikationssystemen (IuK) virtuell, d.h. der Möglichkeit nach, Mobilität zu erschließen, ohne hierfür selbst notwendigerweise (physisch) mobil, d.h. beweglich zu sein. Virtuelle Kommunikation bietet demnach raumüberwindende Optionen der zeitsynchronen Kommunikation mit Partnern, die sich an entfernten Orten aufhalten. Eine eigenständige Qualität des virtuellen Erlebens ist damit nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil, diese ist uns aus anderen Verwendungen des Wortes Mobilität bekannt und kommt etwa im Begriff der "geistigen Mobilität" zum Ausdruck, der sich auf Wahrnehmungen, Sinnes- und Intelligenzleistungen bezieht. Der virtuelle Erlebnisraum setzt mit Unterstützung technischer Möglichkeiten auf neue Sinnesreaktionen.

 

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Schriftsteller, Maler und andere Kunstschaffende haben dies früh erkannt und laden den Interessierten schon seit geraumer Zeit dazu ein, sinnliche Erfahrungen in virtuellen Welten zu erkunden.

 

In der Literatur war es bspw. Stansilaw Lem mit dem im Jahre 1963 erschienenen Sachbuch Summa technologiae, in dem er Phantomwelten entwirft, die genauso wirken wie die reale Welt: Der Mensch kann seine Nervenzellen mit dem Computer koppeln und lebt dann augenblicklich in einer Phantom-, einer virtuellen Welt, in der er sich zu an anderen, fernen Plätzen begeben kann. Für ein solches "Eintauchen" in eine virtuelle Welt prägte der amerikanische Schriftsteller William Gibson in seiner Erzählung "Burning Chrome" im Jahre 1982 den Begriff Cyberspace.[5] Dieses mit Hilfe von technischen Mitteln ermöglichte "Eintauchen" bewirkt eine "Dopplung der Wirklichkeit in reale und virtuelle Realität" aus der sich soziale, kulturelle und subjektbezogene Konsequenzen ergeben[6].

 

In einigen der heutigen Medienkunstwerke können wir uns nicht nur gedanklich, wie in einem Roman, sondern simuliert in virtuelle Welten hinein bewegen. So stellt beispielsweise der Australier Jeffrey Shaw für eine solche virtuelle Reise ein schlichtes Fahrrad als reales Vehikel zur Verfügung. Tritt ein Reisender in die Pedalen dieses Gefährts, so kann er, selbstbestimmt das Tempo vorgebend, Projektionen aktivieren und durch virtuelle Kulissen radeln. Diese sind unterschiedlich simulierte Darstellungen, die, "legible", lesbar, z.B. aus Buchstaben bestehende Straßenfluchten von realen Städten darstellen (New York, Amsterdam, Karlsruhe; vgl. Abbildung 1). Die Gestaltungen der virtuellen Stadtarchitekturen unterscheiden sich u.a. in Farbigkeit, und Dimension hinsichtlich ihrer Bezüge zur realen jeweiligen Realtopographie sowie durch die Einbindung von Materialien wie Archivbildern oder auch Aussagen mit der Stadt verbundener Menschen. Der Reisende bewegt sich immer weiter in den virtuellen Raum hinein: Das Fahren, Schauen und Lesen wandelt sich vom Erkunden eines konzeptionellen Systems zum Eintauchen in den Bildraum, heisst es in einer Begleitinformation zu dieser interaktiven Installation "Legible City".[7]

 

Abbildung 1: Legible City von Jeffrey Shaw

In der Weiterentwicklung "Distributed Legible City" (1999) ist es möglich, dass sich zwei voneinander entfernte Radfahrer in einem virtuellen Ambiente in Echtzeit treffen und miteinander verbal kommunizieren.[8] Gleichwohl ist der Antritt dieser Reise an einen bestimmten physischen Ort gebunden. Zurzeit befindet sich das Fahrrad mit dem die Simulationen hervorgerufen werden im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie ZKM. Weniger bekannte Künstler, die in solchen "physischen Tempeln der Kunst" (noch) keinen (dauerhaften) Platz einnehmen, erobern zunehmend den Cyberspace, also virtuelle Räume, um anderen den Zugang zu ihrer Kunst zu öffnen. Dort im virtual space bietet sich ein "Grundstück" für eine "NoRoomGallery"[9], eine virtuelle Parallelwelt, die weltweit über das world wide web - also weitestgehend ortsungebunden - zur interaktiven Nutzung, zur Verfügung steht. Gleichwohl, ein solches virtuelles Universum ist vielfältig in die reale Lebenswelt eingebunden, denn bevor virtuelle Repräsentationen einen Sinn ergeben, muss man (Vor-)Erfahrungen gewonnen haben: "Wirklich ist, was sich (er-)träumen lässt."[10]

 

Erträumen in diesem Sinne lässt sich etwa der künftige Job. So bietet bspw. der Automobilzulieferer ZF Friedrichshafen folgenden Einstellungstest: Er schickt seine Bewerber in ein Online-Auswahlverfahren, in dem die Bewerber "in virtuellen Teams sieben Tage eine Aufgabe bearbeiten" und sich dabei in einem Chatroom verständigen.[11] Ein Online-Access vorausgesetzt, muss keiner der Bewerber zu einem solchen Assessment Center (zunächst) anreisen. Ein enormer Effizienzgewinn mithin. Und auch spielerische, Phantasie hervorbringende Elemente können wahrgenommen werden.


In der Verquickung der beiden Aspekte dürfte einer der Erfolge virtueller Darstellungen begründet liegen, die heute, den künstlerischen Botschaften meist entkleidet, zunehmend in der Erziehung, dem Bildungs- und dem Arbeitsleben wie auch im Freizeitbereich mannigfaltig demonstriert werden. Etwa so: "Dank Internet beginnt der Traumurlaub schon auf dem Monitor im eigenen Wohnzimmer"[12]. Nach diesem Motto ist es selbstverständlich, dass bereits geraume Zeit vor der Eröffnung einer Messe oder einer Großveranstaltung wie der Expo in Hannover "zu einem virtuellen Rundgang über das Expo-Gelände" eingeladen[13] wird, um für den persönlichen Aufenthalt zu werben. Sollte etwa hierin ein Grund für die unter Niveau liegende Besucherzahl des Ausstellungsgeländes in Hannover liegen?[14] Haben sich potentielle Besucher bereits im Virtuellen Raum hinreichend informiert und haben sie dort die Ausstellung erlebt?  Dies wohl weniger? Der Medientheoretiker Peter Weibel meint jedenfalls, dass Leute durchaus in Bildern und Tönen einen Ersatz für körperliche Gegenwart finden und damit einen "höheren Abstraktionsgrad" erlernen: "Unsere Gesellschaft verlegt sich von der Nahkommunikation immer mehr auf mediale Fernkommunikation"[15]. Darin liegt auch ökonomische Rationalität – eine mächtige Triebfeder. In Wien bietet das Immobilienunternehmen "virtual real-estate" ihren potenziellen Kunden eine "Wohnungsbesichtung im Cyberspace" an, die den Gang zum Makler verzichtbar erscheinen lässt.[16] Der Kaufinteressent kann durch mausgesteuertes Verschieben der Zimmerwände den jeweiligen Grundriss seinen Raumbedürfnissen anpassen, einen Blick aus den Fenstern werfen, die Infrastruktur des Gebäudes erkunden und so prüfen, ob Wohnung und Wohnlage seinen Bedürfnissen und Vorstellungen entsprechen. Vor wenigen Monaten warb das Immobilienportal PlanetHome in den Printmedien für seine angebotenen 30.000 Objekte mit folgenden Sätzen: "Unternehmen Sie einen virtuellen Rundgang durch Ihre Wunschimmobilie. Fahren Sie exklusiv mit PlanetHome online durch die Straße. Informieren Sie sich über das Wohngebiet mit interaktiven Umgebungsplänen."[17]

 

Ökonomische Rationalität steht auch hinter der Entwicklung des Forschungszentrums Informationstechnik (GMD), die eine Lösung anbietet für Besprechungssituationen, zu denen eine reale Zusammenkunft nicht möglich ist. Diese technische Lösung "kombiniert einen realen mit einem virtuellen Raum und projiziert den abwesenden Gesprächspartner in die virtuelle Verlängerung des eigenen Raumes hinein (Abbildung 2).

 

Abbildung 2: DynaWall. VR-Entwicklung der GMD

Der Trick dabei ist, dass mit Hilfe von Virtual Reality-Technologien der jeweils andere Raum inklusive dem darin sitzenden Gesprächspartner auf eine derart raffinierte Weise in den eigenen Raum eingeblendet wird, dass die virtuelle und die wirkliche Realität sich nahtlos überlagern. Das verblüffende Ergebnis: Man hat das Gefühl, der Gesprächspartner sitze am anderen Ende des Tisches, im gleichen Raum wie man selbst."[18] Auch diese Integration des Computers in den – künftigen - Büroalltag demonstriert eine komplexe Steigerung medial vermittelter Wahrnehmungen, z.B. effizientere, beschleunigte Raumüberwindung, gleichzeitige "Ansprache" verschiedener Sinne[19], und verweist damit auf einen qualitativen Aspekt computerbasierter Virtualisierung.

 

 

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Unzählige weitere Beispiele kommen in den Sinn und belegen die hohe Konjunktur der Wortverknüpfung mit dem Adjektiv "virtuell". Die Virtualität ist omnipräsent, VirtuReal, wie ich einer in einem Werbeprospekt kreierten Wortschöpfung entnehmen konnte. In der Entwicklung und -produktion, etwa im virtuellen Windkanal oder beim Entwerfen virtueller Prototypen in der Automobilherstellung, hat sie einen angestammten Platz. Natürlich auch auf anderen Gebieten des Arbeitslebens.

Abbildung 3: VR-Technik im Einsatz für die Automobilindustrie (FhG)

Abbildung 4: VR-Einsatzmöglichkeit im Bereich der Medizin (FZK)

Es gibt virtuelle medizinische Operationen (in denen Studenten Techniken erlernen), virtuelle Labors (in denen Tierversuche ohne Tiere stattfinden können), virtuelle Universitäten (die ortsunabhängig die Teilnahme an Lehrveranstaltungen ermöglichen), virtuelle Unternehmen (die nur projektbezogen und nicht räumlich-organisatorisch als Einheit bestehen), virtuelle Architektur (die denkbare Entwürfe demonstriert und in gegebene Räume einpasst) und schließlich virtuelle Friedhöfe, allerdings m.W. vorerst nur für die aus der Mode gekommenen Tamagotchis. Wohl auch vor solchem Hintergrund sah sich der Schriftsteller H.M. Enzensberger aufgefordert kulturkritisch und nicht ohne Zynismus zu formulieren: "Die Fähigkeit, eine Pfeife vom Bild einer Pfeife zu unterscheiden, ist weit verbreitet. Wer Cybersex für Liebe hält, ist reif für die Psychiatrie. Auf die Trägheit des Körpers ist Verlass. Das Zahnweh ist nicht virtuell. Wer hungert, wird von Simulationen nicht satt. Der eigene Tod ist kein Medienereignis. Doch, doch, es gibt ein Leben diesseits der digitalen Welt: das einzige, das wir haben."[20]

 

Dennoch, der gesellschaftliche Konsens hinsichtlich einer zu verzeichnenden Entwicklung zur Dominanz des Virtuellen scheint wenig zweifelhaft. Anhand von Expertenumfragen belegen diesen Trend alle in den vergangenen Jahren durchgeführte Zukunftsstudien[21]. - Lediglich die Führung von virtuellen an Stelle von realen Kriegen wird als undenkbar angesehen.[22] - Ansonsten hegen die befragten Fachleute die Erwartung, dass bei vielen Anwendungen, die im heutigen Alltag üblicherweise durch Face-to-face-Kommunikation geprägt sind, künftig die virtuelle Kommunikation vorherrschen könnte; "Reality Isn´t What It Used To Be"[23] – Wirklichkeit verliert das Handgreifliche.

 

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Eine auf Grundlage der viele globale Technikfelder abdeckenden Zukunftsstudie Delphi ´98[24] können potentiell virtuelle Mobilität erzeugende Effekte des Einsatzes neuer IuK-Systeme und –Anwendungen auf die physische Mobilität abgeschätzt werden. Hierzu werden in einem ersten Analyseschritt an die in der Delphi-Untersuchung verwandten Thesen drei grundsätzliche Selektionskriterien danach angelegt, inwieweit neue virtuelle Bewegungsfelder erschlossen, neue reale Bewegungsbereiche ermöglicht oder drittens strukturelle Veränderungen des physischen Verkehrs ermöglicht werden (vgl. hierzu Beispiele in Tabelle 1).

 

Tabelle 1:  Mobilitätswirkungsbereiche informations- und kommunikationstechnischer Lösungen



 

Kategorien

 

Anwendungsgebiete

neue virtuelle Bewegungsfelder

·  durch Online-Dienste, Internet u. ä. verfügbar werdende Ange­bote wie Teleshopping, Telelearning, Telemedizin, E-Mail, vir­­tuelle Serviceangebote und Informationsdienst­leistungen, virtu­elle Kontaktaufnahmen, Ausweitung bestehender Medien auf den neuen Übertragungskanal (Telefonie, Radio, Presse) oder Neue Angebote (Online-Zeitungen), virtuelle Freizeitmöglich­keiten (Computer­spiele im Netz, virtuelle Museen)

·  alles zusätzliche rund um den Multimediabereich (Computer als Hobby (Programmierer oder Spielefreak) oder Gehilfe (Steuererklärung), TV, Video, etc.)

neue reale Bewegungsfelder

 

·  durch Prothesen, künstliche Organe, etc.

·  durch Einsatz von Sprachübersetzungstechnik (sprach-)räum­liche Ausweitung individueller Mobilität

strukturelle Veränderungen physischen Verkehrs

·  Serviceangebote wie Car-sharing, Smartcards

·  Verkehrsregulierung wie Erhebung von Nutzungsentgelten

·  Verkehrswegeoptimierung

(Keine spezifische Zuordnung möglich )

·  Wirkung unklar

·  betrifft mehrere Bereiche

 

 

In den Experteneinschätzungen zur zukünftigen Entwicklung dominiert die Vorstellung einer enormen Veränderungswirkung durch verkehrsrelevante virtuelle Bewegungsmöglichkeiten, wie Abbildung 5 darlegt.

 

Abbildung 5:            Verteilung mobilitätsrelevanter Delphi-Thesen auf unterschiedliche Bereiche und Bewegungsfelder

 

Danach werden in erster Linie die Organisation des Alltags und die Gestaltung der Freizeit von einer Veränderung betroffen sein. Ein weiterer Schwerpunkt virtueller Mobilität wird im Bereich der Bildung und Weiterbildung liegen. Auch strukturelle Veränderungen greifen besonders in bestehende Muster der Alltagsorganisation ein und betreffen den Bereich der Freizeit. Neue reale Bewegungsfelder hingegen werden danach wesentlich den Gesundheits- und Pflegebereich innovieren und unsere soziale Kommunikation sowie den Bereich der Arbeit berühren.

 

Insgesamt wird jedoch die faktische Wirkung einer IuK-gestützten Anwendung auf das tatsächliche Mobilitätsverhalten von Individuen verschieden sein. Verkehrsinduzierende und substituierende Potentiale stehen schließlich in einem spannungsvollen Verhältnis, das bislang nur unzureichend erforscht ist und sowohl auf der individuellen als auch seiner gesamtgesellschaftlichen Ebene mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist.

 

Möglich ist allerdings, auf Grundlage der Delphi-Thesen, ihres vermuteten Realisierungszeitraums und der jeweiligen Innovationsstufe eine "Prognose-Chronologie" zu entwerfen. Diese macht zusätzlich verschiedene Schnittpunkte von Realisierungshorizonten sichtbar – sowohl innerhalb der Kategorien als auch zwischen ihnen. In Abbildung 6 zeigen sich beispielhaft neue virtuelle Anwendungen im privaten Nutzerbereich für die Kategorien Arbeit, Gesundheit/Pflege, soziale Kommunikation, Bildung/Weiterbildung auf einer Zeitachse.

Abbildung 6:            Neue virtuelle Bewegungsfelder

 

Die Abbildung visualisiert durch eine jeweils innerhalb des markierten Bereichs der Rechtecke eingezeichnete vertikale Linie den gemittelten Zeitpunkt, der von der Hälfte der Befragten als Realisierungszeitpunkt bestimmter Anwendungen des betreffenden Bereichs prognostiziert wird. In diesem Sinne wird virtuelles Mobilitätsverhalten im Zeitraum zwischen den Jahren 2008 und 2013 allgemein weit verbreitet zur Realität gehören und in das gewöhnliche Alltagshandeln integriert sein.[25]

 

Einige der Thesen, die die verschiedenen Kategorien dieser Alltagsorganisationen verkörpern, seien an dieser Stelle beispielgebend genannt:

·      Einrichtungen sind in gewöhnlichen deutschen Haushalten weit verbreitet, mit denen man unter Nutzung virtueller Realität das Erlebnis von Reisen, Filmveranstaltungen, Sportwettkämpfen usw. haben kann.

·      Electronic Banking ist in Privathaushalten weit verbreitet.

·      Der Handel in Netzwerken ist weit verbreitet, indem elektronische Abrechnungs- oder Geldsysteme genutzt werden.

·      Ein Computernetz ist weit verbreitet, mit dem eine künstliche Realität (z.B. Virtual Mall) suggeriert wird, bei der einer beliebigen Anzahl von Menschen, die räumlich verteilt wohnen, zur selben Zeit eine gemeinsame Wahrnehmung vermittelt wird.

·      Mehr als 30 % der Güter des täglichen Lebens für Kleidung, Nahrung und Wohnung werden in Deutschland durch Teleshopping erworben.

·      Elektronische Supermärkte sind weit verbreitet, in denen man zu jeder Tages- und Nachtzeit einkaufen kann (von der Bestellung bis zum Ausliefern zu vereinbarten Zeiten).

·      Es ist üblich geworden, zur Freizeitgestaltung die Wohnung nicht mehr zu verlassen.

 

Insbesondere die letztgenannte These macht klar, dass eine solche Zukunft der Virtualität Konsequenzen für unsere physische Mobilität hervorbringt. Schließlich laufen diese Prognosen darauf hinaus, dass die dann verbreitete alternative Erledigung der Alltagsorganisation zwangsläufig an virtuelle (Mobilitäts-)Prozesse gebunden sein wird und nicht, wie heute allgemein üblich, an physische Ortsveränderungen gekoppelt sein muss (Abbildung 7).

 


Abbildung 7: Zeitliche Chronologie der Erreichung von Substitutionsprozessen durch Telekommunikationseinsatz (Basis: Experteneinschätzung mit Hilfe der Delphi-Methodik)

Die empirische Überprüfung dieser These ist jedoch lückenhaft, schon aus forschungsmethodischen Problemen sind Grenzen gesetzt, da die fraglichen Anwendungen bislang nur rudimentär entwickelt und von Menschen nur bruchstückhaft praktiziert werden. Da virtuelle Mobilitätsanwendungen noch am ehesten unter Online-Nutzern gebräuchlich sein dürften, wurden diese in einer 1999 durchgeführten repräsentativen Survey im Hinblick auf beispielhafte Anwendungen genauer analysiert. Dabei wurden Aktivitäten, die dem Aufbau und Erhalt sozialer Kommunikation dienen, wie computervermittelte Kommunikation in Chat-Rooms und in Multi-User-Spielen, sowie internetbasierte Anwendungen im Banken- und Tourismusbereich betrachtet.

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Am Beispiel des Chattens soll ein knapper Blick auf einige ausgewählte Ergebnisse dieser Studie gerichtet werden.

 

Beim Chat handelt es sich um eine Mischform zwischen schriftlicher und mündlicher Kommunikation, da einerseits die Kommunikation über die parallele Darstellung der jeweils schriftlich eingegebenen Texte erfolgt, andererseits durch die Möglichkeit des direkten Reagierens in Form von Echtzeit-Kommunikation eine informelle Art des unmittelbaren Austausches möglich ist, wie man es von einer face-to-face-Unterhaltung her gewohnt ist (Abbildung 8).

Abbildung 8: Screen während einer Chat-Session

Abbildung 9: Chat mit videokommunikativer Unterstützung

 

Neuere Formen des Chats (Abbildung 9) realisieren ein "Cyberland", in dem sich "die Menschen online gegenseitig – als Name, mit Foto oder sogar im Video" sehen und "ohne Umweg über einen Chat-Room (...) miteinander reden"[26]. Eine weitere Art virtueller Kommunikation sind MUDs[27], vernetzte Spiele, die es den Anwendern erlauben, selbst den Raum und Personen (Avatare) zu schaffen, indem sie diese im Text beschreiben. Die beschriebenen Räume sind aktiv; sie reagieren auf Befehle vom Anwender. Somit stellen auch MUD´s eine Art Mischform zwischen schriftlicher und direkter Kommunikation dar, bei der einerseits Regeln und Konventionen der Interaktion in face-to-face-Situationen und andererseits der audio-visuellen Darstellung als Orientierung dienen (Abbildung 10). MUD und Chat-Room dienen der Unterhaltung, haben sozialen Charakter und verfolgen jeweils inhaltliche bzw. thematische Schwerpunkte. Sie stellen somit eine virtuelle Form des zielgerichteten sozialen Zusammenkommens von Personen zum Zwecke der Unterhaltung dar.

 

Abbildung 10: Vernetztes interaktives Spiel mit Chat-Funktion

Bevor einige Überlegungen und Ergebnisse zu den Mobilitätswirkungen des Chattens angestellt werden, seien zunächst einige Charakteristika des typischen Chatters angeführt. Knapp zwei Fünftel (37,6%) der deutschen Online-Nutzer chatten oder spielen MUD´s zumindest selten; etwa 10% dieser Gruppe chattet an mindestens vier Tagen pro Woche (9.6% Viel-User; bezogen auf alle Online-Nutzer sind dies 3,6%)[28] (Abbildung 11).

 

Abbildung 11: Online-Nutzer und Chatter in Deutschland

Überwiegend gehen Online-Chatter generell häufiger ins Netz als Personen, die nicht oder nur selten chatten. Auch zeichnen sie sich tendentiell eher durch eine freizeit- und weniger eine informationsorientierte Netznutzung aus. Unter den Chattern sind überproportional oft jüngere Personen im Alter zwischen 14 und 19 Jahren, jedoch chatten auch in der Altersgruppe ab 50 oder mehr Jahren im Durchschnitt noch etwa 10% der Online-User. Im Vergleich zu anderen (privaten) Anwendungen nutzen Chatter besonders häufig (65,9%) ihren eigenen, privaten Online-Access um sich in die virtuelle Kommunikation des Chats zu begeben. Die Ergebnisse der Online User-Survey belegen ferner, dass Online-Chatter, die nur wenig chatten, meist nach einigen Jahren damit aufhören (die Sättigungsgrenze liegt bei 4 Jahren), während hingegen die intensiven Nutzer anteilig häufiger Chat/MUD nutzen, je länger sie in Jahren das Internet nutzen.

 

Um Hinweise zu einem unterschiedlichen Verhalten je nach Häufigkeit der Nutzung zu erlangen, wird im folgenden bei einigen Darstellungen zwischen Viel-Usern und Wenig-Usern unterschieden.[29]

 

Andere "Leute mit ähnlichen Interessen zu treffen", Leuten "unvoreingenommen begegnen" zu können, und "schnell mit anderen Menschen Kontakt aufnehmen" zu können, zählen zu den häufigsten Motivationen für Online-Chats. Allesamt Motive, die den Wunsch nach zwischenmenschlicher Kommunikation in den Mittelpunkt rücken. Insbesondere bestätigen die Viel-Nutzer solche Gründe für einen Chat. Herausgehoben führen sie das Motiv andere Leute zu treffen und vorhandene Beziehungen zu pflegen an - durchschnittlich 83% Zustimmung gegenüber nur 54% bei Wenig-Nutzern. Auch weitere Aussagen, die den Beziehungsaspekt des Chattens hervorheben, erhalten von Viel-Nutzern durchschnittlich zwischen 23% und 33% höhere Zustimmung; so etwa die Aussagen, um im Chat andere Rollen auszuprobieren, mögliche Partner kennenzulernen oder die Absicht, im Netz zu flirten.

Allgemein gesprochen geht es also beim Chat überwiegend um eine Intensivierung bereits vorhandener bzw. um den Aufbau neuer sozialer Beziehungen. Damit kommt in den Motivlagen ein Bedürfnis nach sozialer Nähe zum Ausdruck, das überwiegend auch den Wunsch nach räumlicher Nähe beinhaltet. Ein deutlicher Hinweis auf eine Mobilität induzierende Funktion dieses interaktiven Kommunikationsmediums. Andererseits wird denn auch die Chance, im Chatroom einander fern bleiben zu können, Leute nicht wirklich zu treffen, als gegensätzliches Motiv für virtuelle Kontakte hoch bewertet. Unverbindlichkeit, Ungebundenheit gegenüber etwaigen sozialen Erwartungen und eine deutlich verminderte Konsequenz sozialer Verhaltensweisen tritt denn auch als weiterer Grund für den einen oder anderen Chat zu  Tage, eine Minderheit von knapp 40 Prozent der Befragten bestätigen dies.

Insgesamt jedoch sehen die Chatter, je häufiger sie chatten, in der Chat-Kommunikation ein wichtiges Element zur Herausbildung von (neuen) Sozialkontakten. In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, dass sie sich selbst als kontaktoffen und kontaktfreudig einschätzen[30]. Auch dies stützt tendenziell die These, dass sich aus einem Chat-Kontakt, der ja vordergründig zunächst als eine nicht-mobile physische Aktivität auftritt und damit – zumindest potentiell - eine physische Mobilität ersetzt, im Zeitverlauf durchaus eine zusätzliche persönliche Mobilität entstehen dürfte. Denn dem entworfenen Selbstbild widerspricht, dass sich ein Chatter aus persönlichen sozialen Bezügen entfernt, einen häuslichen Kokon spinnt und sich darin ausschließlich den virtuellen Kontakten widmet.

 

Insofern stehen Komplementaritäts- und Substitutionswirkung der virtuellen Mobilität nicht im Gegensatz, vielmehr bedingen sich mobilitätsersetzende und Mobilität hervorbringende Aktivitäten wechselseitig, aneinander gebunden wie zwei Seiten einer Medaille.

 

Abschließend sollen die physischen Mobilitätseffekte des Chattens am Beispiel von Kontakten etwas genauer beleuchtet werden, die sich in der Kommunikationssitutation im Netz entwickelt und ausserhalb von Chaträumen fortgesetzt haben. Dazu lautet eine der populärsten Annahmen, der Computer bewirke soziale Isolation. So warnt Mettler-Meibom (1987) vor  einer Vereinsamung des Menschen, die sich erst im Arbeitsalltag, dann in unserer Lebenswelt breit mache[31]. In diesem Denkmodell ist der Rückgang physischen Mobilitätsverhaltens in der Computernutzung immanent angelegt. Vor dem Hintergrund theoretischer Orientierungen und praktischer Befunde, wird der Diskurs um gesellschaftliche Auswirkungen der Computernutzung jedoch widersprüchlich geführt. Schließlich konnte die Vermutung, computer-vermittelte Kommunikation führe zu einer Substitution direkter sozialer Kontakte, bislang empirisch nicht bestätigt werden[32]. Im Gegenteil: Vorliegende Befunde widersprechen eher dieser Substitutionshypothese ("Netzkontakte ersetzen persönliche Kontakte") und stützen die Ergänzungshypothese ("Netzkontakte ergänzen und erweitern den persönlichen Bekanntenkreis").

 

Für die Frage nach den Auswirkungen von chatten/Multi-User-Spielen auf das physische Mobilitätsverhalten sind diese Kontakte insofern von Bedeutung, als dass sie zu Verstärkungseffekten führen können, wenn Personen beispielsweise zu Chattertreffen zusammenkommen oder sich mit Einzelpersonen treffen[33].

 

Auf die Frage: "Hatten Sie schon mal außerhalb des Chatrooms/der Multi-User-Spiele Kontakt zu Leuten, die Sie beim Chatten/bei Multi-User-Spielen kennengelernt haben, sei es per Telefon, Brief, E-mail oder persönlich?" antwortet die überwiegende Zahl von 65 Prozent keine Kontakte außerhalb der Chaträume und MUD´s keine Kontakte aufgenommen zu haben. Korrespondierend hierzu berichtet etwas mehr als ein Drittel der Befragten, in Chats/MUD´s neue Bekanntschaften gewonnen und mit diesen auch schon getroffen zu haben.

 

Differenziert man nur die Chatter, die bereits außerhalb der Chat-Rooms Kontakt mit Personen hatten, die sie dort kennen gelernt haben nach der Häufigkeit der Nutzung (häufig, gelegentlich, selten), so wird deutlich, dass über die Hälfte aller User, die häufig chatten (58,3%), Kontakt hatten. Je seltener Chat genutzt wird, desto seltener werden die dort geknüpften Kontakte außerhalb von Chat-Rooms gepflegt (26,7 %; 19,1 %)[34] (Abbildungen 12 und 13).

Abbildung 12: Kontakte außerhalb von Chaträumen differenziert nach Viel- und Wenig-Nutzern

Abbildung 13: Statistische Daten zur Kontaktaufnahme zwischen Chattern in Abhängigkeit mit der Häufigkeit des Chattens

Eine Darstellung der Chat/MUD-User differenziert nach Wenig- und Viel-Usern verdeutlicht, dass Personen, die eher weniger häufig Chat oder MUD nutzen, auch seltener die dort geknüpften Kontakte außerhalb der Chat- und MUD-Rooms weiter pflegen (30,1 %). Dreiviertel aller Viel-User hingegen stehen auch außerhalb der Chat-Rooms bzw. virtuellen Spielwelten mit den dort geschlossenen Bekanntschaften in Kontakt (75,9 %).

 

Die Kontakte, die außerhalb der Chat-Rooms und Spielwelten bestehen, werden am häufigsten per E-mail gepflegt (74,7 %), gefolgt von Telefonaten (59,5 %) und persönlichen Treffen (59,2 %). Ein Drittel der User gibt an mit diesen Bekanntschaften in Briefkontakt (33,6%) zu stehen. Viel-User tendieren jeweils zu einer häufigeren Nutzung der vier Arten der Kontaktpflege außerhalb des Internet. Persönliche Treffen (78,6 %) liegen bei den Viel-Usern in der Rangfolge noch leicht vor Telefonaten (75,5 %). Wenig-User dagegen entsprechen der Gesamtverteilung der Kontaktarten in der Reihenfolge, da auch hier nach den E-Mails (71,5 %) die Telefonate an zweiter Stelle genannt werden (55,2 %), gefolgt von persönlichen Treffen (53,9 %) und Briefen (28,7 %).  

 

Im Folgenden werden nur die persönlichen Treffen näher untersucht, da sie von hoher Relevanz für physisches Mobilitätsverhalten sind.

 

Knapp 60 Prozent aller Chat/MUD-User treffen ihre Online-Bekanntschaften persönlich.  Die überwiegende Zahl (85,9%) gibt Neugierde als Hauptgrund für diese Treffen an (Abbildung 14). Weitere Gründe, denen jeweils nur knapp ein Fünftel von ihnen zustimmen, sind Partnersuche (19%) und zu wenig Bekannte mit gleichen Interessen in der näheren Umgebung (16%). Nur 8,4 Prozent der Personen, die sich auch privat treffen, geben an, zu wenig Zeit zu haben, Leute auf anderem Wege kennen zu lernen.

 

Abbildung 14: Gründe für persönliche Treffen mit Chat-Bekanntschaften

 

Untersucht man die Antworten der restlichen User, die zwar Kontakte außerhalb der Chat- und MUD-Rooms pflegen, dieses jedoch nicht in Form von persönlichen Treffen tun, hinsichtlich der Gründe gegen persönliche Treffen, so zeigt sich ein weniger einheitliches Bild: Hauptgrund gegen ein persönliches Treffen mit den Bekanntschaften ist die Aussage, man wolle beim Chat/MUD nur seinen Spaß haben (74,5%). Ähnlich hoch (72,3%) die Zustimmung zu der Aussage, dass sie Leute, die sie treffen wollen, lieber auf anderem Wege kennen lernen wollen. Beide Einschätzungen korrespondieren inhaltlich mit der Aussage, dass Chat/MUD-Bekanntschaften und Freunde zwei verschiedene Welten seien (59,4 % Zustimmung). Für die Personen, die hier ihre Zustimmung geben, besteht kein Bedarf, die Chat- und Spiel-Partner außerhalb dieses Umfeldes zu treffen. Sie differenzieren klar zwischen "realen" und "virtuellen" sozialen Beziehungen und schreiben den jeweiligen Kommunikationspartnern unterschiedliche soziale Funktionen zu.

 

Die fünfthäufigste Antwort, dass innerhalb des Netzes zu wenig intensive Kontakte bestünden (43,4 %), bezieht sich ebenfalls auf die Art bzw. soziale Funktion der Kontakte. Die Antworten, dass die Entfernungen zu groß seien (45,0 %), der zeitliche (34,6 %) und der finanzielle Aufwand zu groß sei (33,5 %), beziehen sich hingegen auf einen Mangel an Ressourcen wie Zeit und Geld und schließen somit persönliche Treffen nicht aus sozialen Gründen aus.

 

Die bereits erwähnte Begründung, dass innerhalb des Netzes zu wenig intensive Kontakte bestünden (43,4 %), sowie die Vorbehalte gegen Treffen mit fremden Leuten (24,9 %), und dass die Befragten angeben sich nicht zu trauen, Leute auf ein Treffen hin anzusprechen (19,1 %) sowie die Befürchtung, dass ihre Bekannten und Freunde von diesen Treffen erfahren könnten (9,7 %) verweist auf eine große Unsicherheit hinsichtlich der Einstufung der Online-Kontakt und der Einordnung dieser in das soziale Beziehungsgeflecht der Befragten. Bei diesen Antworten scheinen die Personen nicht eindeutig zwischen den sozialen Funktionen der Bekanntschaften zu differenzieren. Dies wird zudem deutlich, wenn man bedenkt, dass die Begriffe Freunde, Kontakte und Bekanntschaften im Rahmen einer schriftlichen Befragung nicht eindeutig differenziert verwendet werden.

          

Nur knapp 10 Prozent der Befragten geben an, einfach kein Interesse, und somit scheinbar einfach keinen Bedarf an zusätzlichen sozialen Kontakten zu haben. Auch ihnen kann unterstellt werden, dass sie den Online-Bekanntschaften feste bzw. eindeutige soziale Funktionen zuschreiben und diese sich von denen der herkömmlichen Freunde und Bekannten unterscheiden (Abbildung 15).

Abbildung 15: Gründe gegen persönliche Treffen mit Chat-Bekanntschaften

 

Aufgrund der durchaus weiten Entfernungen zwischen den Chat/MUD-Teilnehmern müssen entsprechend weite Entfernungen überwunden werden, wenn private, "physische" treffen realisiert werden. Eine Betrachtung der Häufigkeiten der zurückgelegten Kilometer zeigt, dass sich die privaten Treffen nicht ausschließlich auf regionaler Ebene abspielen. Über ein Drittel aller zurückgelegten Entfernungen beliefen sich auf weniger als 20 km (37,2%). Nur 7,6 Prozent der Befragten legten zwischen 20 und 50 Kilometer zurück, um sich mit ihren Online-Bekanntschaften zu treffen. Knapp ein Drittel aller Befragten Chat/MUD-User, die bereits an persönlichen Treffen teilgenommen haben, bewegten sich zwischen 50 und 200 Kilometer von zuhause weg. Bei dieser Entfernung ist davon auszugehen, dass der Zielort noch in der selben Region lag, bzw. die Nachbarstadt aufgesucht wurde. 15,5 Prozent der Nutzer, die persönliche Treffen wahrgenommen haben, legten zwischen 200 und 500 Kilometer zurück, um ihre Chat-/MUD-Partner zu treffen und etwas mehr als ein Fünftel (22,2 %) legen sogar mehr als 500 Kilometer zurück. Somit lässt sich folgern, dass ungefähr ein Drittel der privaten Treffs von Chat-/MUD-Usern überregional stattfinden. Oder: dass für ein Drittel der Chat/MUD-User eine Entfernung von mehr als 500 km (=überregional) kein Hindernis darstellen, um Online-Bekanntschaften privat zu treffen (Abbildung 16).

Abbildung 16: Räumliche Entfernung in der persönliche Treffen stattfinden

 

Etwa 15 Prozent der Befragten, die sich auch privat mit ihren Chat/MUD-Bekanntschaften treffen, sind hierzu bereits ins Ausland gefahren, rund 85 Prozent hingegen haben sich bisher nur im Inland mit ihren Online-Bekanntschaften getroffen. Zwei Drittel der Befragten, die sich im Ausland getroffen haben, sind innerhalb Europas vereist, und auch außereuropäische Treffen und längere Reisen haben stattgefunden (Abbildung 17).

 


Abbildung 17: Treffen mit Chat-Bekanntschaften im Ausland

 

Im Rahmen einer Gruppendiskussion mit einigen Viel-Usern wurden entsprechende Fälle bestätigt und der Chat-Room als herausragende Plattform angesehen, den angestammten Regionalraum auch einmal für längere Zeitphasen verlassen zu können. Die Chatter sind eine internationale "Gemeinde", in der Teilgruppen durchaus gerne ein virtuell gewonnenen Besuch begrüßen. Unsere Daten belegen jedenfalls nicht, dass Chatter "durch das Internet" seltener aus dem Haus gehen und eine eingeschränkte Freizeitmobilität an den Tag legen.

 

Abbildung 18: Persönliches Treffen zwischen mehreren Chattern, die gemeinsam interaktive Internetspiele betreiben

 

 

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Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die verschiedenen Formen der hier diskutierten virtuellen Mobilität neue, komplexere mediale Formen zur Erledigung unterschiedlichster Aufgaben anbieten. In der Praxis bewirkt die Virtualisierung eine veränderte Kommunikation und auch Wahrnehmung in Bezug auf die Aufgabe. Durch die Einbindung neuer mehrdimensionaler Darstellungsformen wie VR-Techniken, wird der bisher durch mediale Techniken (z.B. Telefon) geltende Wahrnehmungsraum auf weitere Sinnesorgane ausgeweitet. Neben dem Hör- und Sehorgan werden sich künftig vermehrt sensorische und auch olfaktorische Fähigkeiten im virtuellen Raum entfalten können. Dies wird zu einer enormen Steigerung der Komplexität virtueller Anwendungen beitragen. Lange Zeit übliche Tätigkeiten werden unter starken Druck virtueller Alternativen geraten, deren Nutzung selbst nur mit marginalen kognitiven oder emotionalen Einbußen, jedoch mit neu sich entfaltenden zusätzlichen Reizen, Experimenten und sozialen Erfahrungen einhergehen wird.

 

Tendenziell entfällt mobile Tätigkeit an diesem Schnittpunkt, zumindest teilweise oder zeitweilig und variiert damit mobiles Verhalten. Fraglich ist jedoch, ob damit zwangsläufig eine generelle Reduktion des Mobilitätsverhaltens einhergehen muß oder ob nicht vielmehr eine Integration der virtuellen Betätigungen in traditionell geprägte Verhaltensweisen wahrscheinlicher ist. Aber auch diese können eine Verschiebung im Mobilitätszeitbudget bewirken. Mit der Richtung dieser Veränderung befasste sich Rothengatter, wie eingangs zitiert, vor Jahren. Bei aller Hoffnung, die er in die verkehrssubstituierende Wirkung moderner IuK-Systeme setzte, prognostizierte er, dass der Wegfall von "Pflichtwegen" eher zu einer Vermehrung der "Lustwege" führen und in diesem Sinne die Nutzung virtueller Kommunikation künftig eher eine kontraproduktive Mobilitätswirkung entfalten wird.[35] Ob Kontraproduktivität in diesem Zusammenhang der zutreffende Terminus ist, sei dahingestellt. Festgestellt werden konnte, dass sich aus der virtuellen Kontaktaufnahme ein persönlicher Beziehungsaufbau, eine soziale Beziehung entwickeln kann. So gesehen, erhält das private Mobilitätsverhalten einen weiteren Stimulus neue Mobilitätsmuster herauszubilden, um die stetig anwachsenden Wegstrecken in das endliche tägliche Zeitbudget zu integrieren.



[1]    Die folgenden Ausführungen basieren auf Ergebnissen des empirischen Forschungsprojekts "Virtuelle Mobilität privater Haushalte", das mit Förderung des Instituts für Mobilitätsforschung ifmo, einer Forschungseinrichtung der BMW Group, am Fraunhofer-ISI durchgeführt wurde. Die Buchpublikation von Projektergebnissen erscheint im Springer-Verlag: Zoche, P., S. Kimpeler, M. Joepgen: Virtuelle Mobilität: Ein Phänomen mit physischen Konsequenzen?. Zur Wirkung der Nutzung von Chat, Online-Banking und Online-Reiseangeboten auf das physische Mobilitätsverhalten. Ein Vorversion des vorliegenden Beitrages wurde vom Verfasser unter dem Titel "Virtuelle Mobilität: Zukunftstrends und Zielkonflikte" auf dem vom Forum Zukunft Bauen veranstalteten "Mobilitätskongress 20000 – Zunkunft in Bewegung" am 9. November 2000 in Berlin vorgetragen. Die Publikation der Kongreßbeiträge ist im Erscheinen.

[2]     Popitz, H.: Epochen der Technikgeschichte, J. C. B. Mohr: Tübingen 1989.

[3]     Steinkohl, F.: Mobilität – Begriff, Wesen, Funktion. In: Steinkohl, F., N. Knoepffler, S. Bujnoch (Hg.): Auto-Mobilität als gesellschaftliche Herausforderung. Herbert Utz Verlag, München 1999, S. 15.

[4]     Rothengatter, W.: Mobilität und Kommunikation als Basis dynamischer Wirtschaftsprozesse an den Grenzen physischer Möglichkeiten. In: Fraunhofer-Gesellschaft (Hrsg.): Kommunikation ohne Verkehr? Neue Informationstechniken machen mobil. Tagungsband Fraunhofer Forum 1995, München 1995, S. 26ff.

[5]     Letztlich populär und weltweit bekannt wurde dieser Begriff mit dem zwei Jahre später, im Jahre 1984 von Gibson publizierten Roman "Newromancer".

Zur Entstehungsgeschichte des Begriffs zitiert Klaus Podak in dem Feuilletonbeitrag "Der erste im Cyberspace" folgende Aussage Gibsons: "Außerdem hatte ich von Gesprächen mit Leuten über Computer her den Verdacht, daß jeder auf irgendeiner Ebene, ohne es je wirklich zu sagen, das Gefühl zu haben schien, daß hinter dem Bildschirm ein Raum war. Ich nahm das halt und spann es so weit aus, wie´s ging." Süddeutsche Zeitung, 3./4. Juni 2000, S. III.

[6]     Bühl, A.: Die virtuelle Gesellschaft. Ökonomie, Politik und Kultur im Zeichen des Cyberspace. Westdeutscher Verlag: Opladen 1987, S.25.

[7]     Begleitinformationen zu der interaktiven Installation "Legible City" von Jeffrey Shaw unter http://on1.zkm.de/zkm/discuss/msgReader$609.

[8]     Sperlich, T.: Die Zukunft hat schon begonnen – Visualisierungssoftware in der praktischen Anwendung. In: Maar, C.; H. U. Obrist; E. Pöppel (Hrsg.): Weltwissen. Wissenswelt. DuMont Buchverlag, Köln 2000, S. 342-375.

[9]     Unter diesem "Namen" belebten Hamburger Künstler einen virtuellen Ort, an dem ihre Kunstaktion "Cyberbohne" betrachtet und, wie anlässlich der Art  Genda, der Biennale des Nordens in Stockholm 1998 ermöglicht, real physisch vor Ort in Stockholm und zeitgleich real im virtuellen Cyberspace des www auch mitgestaltet werden konnte. Die Verschmelzung von virtuellem und realem Raum kennzeichnet auch einen Beitrag der Künstler zur Ausstellung einIräumen, Hamburger Kunsthalle November 2000-21. Januar 2001. www.raeumen.org; www.cyberbohne.de; www.noroom.qoob.de.

[10]    Born, R.: Virtuelle Wirklichkeiten – Herausforderungen, Chancen und Gefahren, hektographiertes Manuskript, Wien 1998.

[11]    Süddeutsche Zeitung v. 4./5. Nov. 2000, Nr. 254, V1/1.

[12]    Computer&Co. Das Multimedia-Magazin Süddeutsche Zeitung 7/98.

[13]    Expo virtuell, in: CONNECT 12/2000, S. 162.

[14]    Vor Beginn der Expo wurde seitens der Veranstalter mit 40 Millionen Besuchern gerechnet, tatsächlich kamen 18 Millionen Besucher auf das Ausstellungsgelände.

[15]    Spiegel-Gespräch mit Peter Weibel über Kunst und Medien der "Zweiten Moderne", DER SPIEGEL 2/1999, S.187ff.

[16]    Vgl. das eingangs angeführte Zitat von Heinrich Popitz, vgl. Quelle in Fußnote 2.

[17]    Zitiert aus einem Anzeigentext. In: DER SPIEGEL, 44/2000, S. 97.

[18]    Wie Fußnote 16.

[19]    Der Effizienzgewinn ist die offensichtlichste Tendenz einer technologischen Innovation; vgl. hierzu H. Popitz, Epochen der Technikgeschichte, J. C. B. Mohr: Tübingen 1989.

[20]    Enzensberger, H.M.: Das digitale Evangelium. In: DER SPIEGEL 2/2000. S. 92-101.

[21]    Harnischfeger, M.; C. Kolo; P. Zoche (1998): MedienZukunft 2005/2015 – Mediennutzung der Zukunft im privaten Sektor. Dokumentationsband einer Expertenumfrage des Fraunhofer-Instituts für Systemtechnik und Innovationsforschung ISI in Kooperation mit dem Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest. FhG-ISI: Karlsruhe, September 1998.

      Cuhls, K., K. Blind; H. Grupp; H. Bradtke; C. Dreher; D.-M. Harmsen; H. Hiessl; B. Hüsing; G. Jäckel; U. Schmoch; P. Zoche: DELPHI ´98 Umfrage. Studie zur globalen Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Methoden- und Datenband (Bd. 2) sowie Zusammenfassung der Ergebnisse (Bd. 1). Hrsg. vom Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung im Auftrag des Bundesmin. f. Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) 1998.

[22]    Wieners, B.; D. Pescovitz: Reality Check. Edition Hardwired im Midas Verlag, St.Gallen und Zürich: 1997. Hingegen hat beim strategischen Kriegs"spiel" der Einsatz von Simulations- und VR-Techniken jedoch längst hohe Bedeutung erlangt.

[23]    Zitat von T.M. Anderson, nach Mettler, P.H.: "Die Wissenschaft der kommenden globalen Wissensgesellschaft – Gesellschaftswissenschaft! Einführung in deren Methoden, Ziele und Aufgaben. In: S+F 1/2000, S. 93-99.

[24]    Vgl. Fußnote 16.

[25] Zoche, P.: Virtuelle Mobilität privater Haushalte. In: Institut für Mobilitätsforschung (Hrsg.): Auftakt in Berlin: Forschung für die mobile Zukunft. Berlin: Inst. für Mobilitätsforschung, 1999, S. 52-67.

[26]    Vgl. hierzu: www.cyland.de, www.lluna.de und www.tterra.de

[27]    Abk. für "Multi User Dungeons", zu deutsch etwa "Labyrinthe für viele Benutzer". Diese Online-(Rollen-)Spiele funktionieren nach dem Muster der alten Textadventures, an denen zahlreiche Spieler gleichzeitig teilnehmen und in einer auf Text basierenden Welt mit- oder gegeneinander spielen können.

[28]    Alle auf die empirische Untersuchung bezogenen Daten wurden in einer im Jahre 1999 durchgeführten Repräsentativerhebung deutscher Online-Nutzer gewonnen.

[29]    Im Jahr 1999 waren Frauen insgesamt seltener überhaupt online als Männer (34% Frauen vs. 66% Männer). Jedoch nutzten geringfügig mehr Frauen (40,5%) Chat/MUD als Männer (36,2%). Es ist jedoch kein signifikanter Zusammenhang zwischen Geschlecht und Nutzung von Chat/MUD festzustellen. Die Verteilung männlich/weiblich der Chat/MUD-User zeigt somit keine Besonderheit.

[30]    Die Gruppe der Viel-Nutzer schätzt sich im Vergleich zum Rest der Befragten in etwas geringerem Maße selbst als kontaktfreudig ein. Insgesamt bestehen jedoch keine sehr großen und keine signifikanten Unterschiede.

[31] Mettler-Meibom, B.: Soziale Kosten in der Informationsgesellschaft: Überlegungen zu einer Kommunikationsökologie. Universität Hamburg, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt/M., 1987.

[32] Wetzstein (1994) kommt bei einer Online Befragung von 464 befragten Personen zu dem Ergebnis, daß computer-vermittelte-Kommunikation Face-to-Face Kontakte nicht ersetzt. Vielmehr gaben 66 Prozent der Befragten an, ihr Bekanntenkreis hätte sich über computer-vermittelte-Kommunikation vergrößert. In einer ähnlichen Studie äußerten 63 Prozent der Befragten, daß sie über computer-vermittelte-Kommunikation neue Kommunikationspartner gefunden hätten (Kneer 1994).

[33]    Unbestritten ist die Bedeutung, die Online-Kommunikation für die Nutzer aufzuweisen vermag. Nutzer halten Freundschaften aufrecht, knüpfen Online neue Kontakte, erhalten emotionale Unterstützung: "These accounts make it clear that Online relationships are genuine relationships in the eyes of the participants (PARKS 1996: 82)".

[34]    Für die Nutzer von MUD-Spielen läßt sich dieser Zusammenhang nicht feststellen.

[35]    Vgl. Rohengatter, W., 1993, zit. nach Harmsen, D.-M. und R. König: Möglichkeiten der Substitution physischen Verkehrs durch Telekommunikation. Fraunhofer-ISI: Karlsruhe 1994. Herausgegeben vom Forschungs- und Technologiezentrum (FTZ) der Deutschen Telekom AG: FTZ, 1994, 154 S.


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