Computerwoche / YOUNG PROFESSIONAL 14.04.97, S.32:

P R A X I S O R I E N T I E R U N G   I M   S T U D I U M

Informationsverarbeitende Dienstleister sind auf das Know-how aus Bits und Bytes angewiesen wie kaum ein anderer Bereich der Wirtschaft. Grund genug, am Puls der Zeit zu bleiben und die neuesten Erkenntnisse aus Forschung und Lehre auf praktische Probleme anzuwenden. Doch wer glaubt, dies sei bereits Realität, sieht sich getäucht. An den Hochschulen des Landes scheint man sich für die Versicherungsbranche nicht sonderlich zu interessieren - bis auf eine Ausnahme.
An der Universität Leipzig ist der Schulterschluß gelungen.


Bublys:
Es mangelt an konzeptionellem Denken


Mühl:
Hochschulen sollen bedarfsgerecht ausbilden

"Als Student konnte ich in Leipzig eine Menge lernen", läßt Frank Bublys die jüngste Vergangenheit Revue passieren. Und damit meint er vor allem die Vorlesungen und Übungen, die von Berufspraktikern aus der Versicherungsbranche veranstaltet wurden. So können die Themen Projekt- und Qualitätsmanagement dazu beitragen, die Kluft zwischen traditionellem Lehrangebot und Praxisbedarf zu mindern. Bublys ist einer der ersten Informatikabsolventen mit Schwerpunkt Versicherungswirtschaft und verdient seit Sommer letzten Jahres sein Geld bei der R+V Versicherung in Wiesbaden.

Daß sich das praxisorientierte Studienangebot gerade in Leipzig etablieren konnte, kommt nicht von ungefähr. "Nach der Wende litt die Informatik an einer schwachen Besetzung", erinnert sich Professor Siegmar Gerber, heute Prodekan an der Universität. Aus der Not entstand eine Tugend: Auf der Suche nach Partnern für die überlebensnotwendige Drittmittelbeschaffung kam man schnell mit der Versicherungswirtschaft ins Gespräch.

Allerdings machten die Professoren von Anfang an deutlich, daß sie keinerlei Zugeständnisse gegenüber der wissenschaftlichen Ausbildung im Sinn hatten. "Man muß aufpassen, daß die Universität nicht zu einer Betriebsakademie der Wirtschaft umfunktioniert wird.", stellt Gerber klar.

Die entscheidenden Impulse jedoch - dies steht außer Frage - kamen aus der Versicherungsbranche. Allen voran traten die Allianz sowie die R+V Versicherung auf den Plan und gründeten zusammen mit Professor Wolfgang Glatthaar, Wissenschaftsdirektor der IBM Deutschland GmbH und später Präsident der Gesellschaft für Informatik (GI), sowie Professor Walter Knödel, Gründungsdekan der Informatik an der Universität Leipzig, eine Kommision.

Ihre kritischen Aussagen zum Verhältnis zwischen Theorie und Praxis sowie ihre konstruktiven Vorschläge für eine praxisorientierte Hochschulausbildung in der Informatik legten sie in Gestalt eines Weißbuches vor, mit dem sie den Marsch durch die Institutionen antraten. Michael Mühl, Prokurist bei der R+V: "Wir sind davon überzeugt, daß die Universität nicht nur Wissenschaftler produzieren sollte, sondern sich vor allem auf die bedarfsgerechte Qualifizierung des Nachwuchses konzentrieren muß."

Inzwischen ist Diplominformatik mit Schwerpunkt Versicherungswirtschaft etabliert und mit einem Kooperations-Rahmenvertrag zwischen dem Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), Bonn, und der Universität Leipzig untermauert. Seit dem Wintersemester 1992/93 können sich Studenten für den neuen Studiengang an der Leipziger Uni immatrikulieren.

Gegen den Trend:
An der Uni Leipzig hat sich die Zahl der Erstsemester im Informatikstudium verdoppelt.
Während die ersten vier Semester den theoretischen Grundlagen vorbehalten sind, können sich die Versicherungsinformatiker in spe im Hauptstudium auf Probleme von Anwendungssystemen und -architekturen, Software und Datenbanken, aber auch auf Fragen des Projektmanagements oder des Qualitätsmanagements konzentrieren. Das persönliche Engagement der Versicherunghspraktiker auf dem Campus bietet der überschaubaren Zahl von Studenten eine gute Gelegenheit, erste berufliche Kontakte zu knüpfen und Erfahrungen zu sammeln. Die Nachfrage nach Praktika und Diplomarbeiten ist deshalb sehr groß. Mittlerweile hat das Interesse an einem Informatikstudium in Leipzig spürbar angezogen: "Mit etwa 100 Erstsemestern registrieren wir eine doppelt so hohe Nachfrage wie 1995", berichtet Professor Gerber nicht ohne Stolz. Auch die wissenschaftliche Betreuung kann sich sehen lassen, insgesamt sind demnächst zehn Lehrstühle besetzt.

Noch müssen sich die Berufspraktikas allerdings in Geduld üben. Bublys, angesprochen auf die größten Defizite des Studiums aus seiner Sicht: "Konzeptionelles Denken und das Erkennen von Zusammenhängen liegt den meisten Informatikstudenten fern." Viele träumen von einem Hackerleben als Unix-Freak und fielen spätestens beim Berufseinstieg auf die Nase. Allerdings können sich die Studenten durch praxisorientierte Ergänzungen des Lehrangebotes wie mehrmonatige Praktika und Diplomarbeiten vor Ort auf die Anforderungen der Versicherungspraxis einstellen und vorbereiten.

"Viele DV-Projekte kranken daran, daß Informatiker kein Branchenwissen mitbringen", geht auch Gottfried Koch mit der Ausbildung des Nachwuchses ins Gericht. Der Geschäftsführer der FJA Feilmeier & Junker GmbH, München, eines Informatikdienstleisters für Versicherungen, legt den Finger in die Wunde. Damit Informatiker nicht weiter auf fremden Schauplätzen kämpfen und durch unzureichendes Verständnis gegenüber den Problemen vor Ort nur die Kosten weiter in die Höhe trieben, sollten bereits in der Hochschulausbildung neben dem Informatikwissen auch fachliche und außerfachliche Kompetenzen erworben werden. "Als Unternehmer legen wir unser strengstes Korsett ab und gehen an die Universität", so Kochs Vision der Partnerschaft zwischen Wirtschaft und Wissenschaft.

Die Wissenschaft, so Dietmar Freigang, Direktor der Anwendungsentwicklung bei der Allianz Leben, Stuttgart, solle Informatiker ausbilden, "die sich in der rauhen Welt des internationalen Wettbewerbs bewähren". In Leipzig zumindest sind die Weichen gestellt. Die Initiatoren träumen von hochqualifizierten Absolventen, denen Geschäftsprozesse und Anforderungen der Anwender, für die sie informationstechnische Lösungen entwickeln müssen, vertraut sind. "Die gegenseitige Befruchtung aus Wissenschaft und Anwenderunternehmen ist wesentliches Element der Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland", so Freigang - auch des Standortes Leipzig, könnte man hinzufügen.




Winfried Gertz


HTML-Umsetzung: Andreas Zerbst 10.07.97